ICH FRAGE MICH, WARUM WIR UNS SCHON WIEDER NICHT GEMERKT HABEN WIE ALT IHR EIGENTLICH SEID
Theater der Direktheit
Die zweite von mindestens zwei Möglichkeiten, viele Arbeiten zeitgenössischer Performancekunst zu beschreiben, verhält sich konträr zur ersten, und ihr Gewährsmann ist nicht Brecht, sondern Antonin Artaud, der versuchte, ein „Erfahrungstheater
der größtmöglichen Nähe und Direktheit" zu etablieren. Artaud betrachtete die Bühne als konkreten, körperlichen Ort mit einer eigenen die Sinne adressierenden Sprache, die eher in ihren lntonationen, ihrer Musikalität und Brüchigkeit interessant ist als in ihren Inhalten. Es handelt sich um ein Theater der Bilder und Geräusche, das nicht unbedingt
einer klassisch -linearen Dramaturgie folgt. Es fällt nicht schwer, die Produktionen von Masters of the Universe in diese Tradition einzureihen: Das nicht-narrative Bilder- und
Soundtheater der Gruppe zeigt eine sehr eigene, auf einer Fülle von Reizen aufbauende Ästhetik. Verzichtet man auf eine vorhersehbare Handlungslogik, kann als nächstes alles
passieren: Masters ofthe Universe spielen mit Lautstärke und Geschwindigkeit, aber auch mit Ruhe und Dauer. Die Körper auf der Bühne dienen nicht als Träger von Figurenidentitäten, sondern kommen in ihrer individuellen, physischen Eigenheit zur Geltung. All das kann auch provozieren, wie die kindliche Performerin in "Lucky Strike", die im Latex-Catwoman-Kostüm und einem Gewehr in der Hand einen Performer dazu auffordert, sein Leben zu beenden. Dieses Theater ist nicht moralisch- aber es kann uns dazu bringen, unsere eigenen politischen und ästhetischen Erwartungen radikal
zu hinterfragen.
Theater des Kollektiven
Showcase BeatLe Mot und Masters of the Universe begreifen sich als Kollektive; und auch die Zusammenarbeit von Zaun und dem Theater die stromer kann als kollektiv beschrieben werden . Somit findet der nicht-hierarchische Umgang mit ästhetischen Theatermitteln, der hier erläutert wurde, eine Die größte Provokation vieler dieser und weiterer performativer Einflüsse auf zeitgenössische Theaterformen für ein junges Publikum liegt womöglich darin, dass etliche ihrerAkteur*innen zunächst gar keinen Sinn sehen in einer strikten Abgrenzung und dem Label Kinder- und Jugendtheater, geschweige denn in eine Unterteilung eines anvisierten Publikums in Altersgruppen."lch frage mich, warum wir uns schon wieder nicht gemerkt haben, wie alt ihr eigentlich seid?"- diese fragende Äußerung des Spielers Best in „Stinkt Pink?" trifft den Nagel auf den Kopf. Die hiermit verbundene Haltung, dass das Publikum, egal welchen Alters, solange nicht weiß, was es sehen will, bis es das gesehen hat, und dass das auch niemand vorhersagen kann, widerspricht einem eher handwerklichen und theaterinstitutionellen Kunstverständnis. Vielleicht ist sie idealistisch. Vielleicht liegt hierin aber auch ein riesiges künstlerisches Potential: „Jeder ist willkommen!( ... ) Verflucht sei, wer uns nicht glaubt!“
GET INVOLVED!
Die Performer Philipp Karau und Mark Schröppel von SKART, ein Künstlerkollektiv, das 2006 ebenfalls aus dem Gießener Institut für Angewandte Thea- terwissenschaft hervorgegangen ist, schlagen unter dem Aspekt des partizipativen Mit- und Gegeneinander einen auffällig eigenwilligen Weg ein. Sie verschränken auf besondere Weise inhaltliche, ästhetische und strukturelle Innovation und haben in der Spielzeit 2014/2015 in Kollaboration mit Kampnagel Hamburg die schräge Revue „Lucky Strike“ produziert. Das partizipative Forschungsfeld der aktuellen Arbeiten von SKART umfasst vor allem die Suche nach einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Er- wachsenen, Kindern und Jugendlichen. Für die In- szenierung „Lucky Strike“ übersetzen sie zusammen mit Schülerinnen und Schülern der Neuen Schule Hamburg das Märchen vom „Hans im Glück“ in die heutige Konsumwelt. Hans wechselt seine Identität, er wird genauso zum Nihilist, der jegliche Wertvorstellungen hinter sich gelassen hat, wie zum Materialist, der skrupellos allen Verführungen der Warenwelt auskostet und seiner Habsucht frönt. Be- sitzansprüche werden mit Fantastik gepaart, Justin Bieber wird als Pappkamerad das Objekt der Begierde eines der mitspielenden Mädchen, religiöse Myste- rienspiele sind mit politisch grundierten Gewalt- vorstellungen unterlegt, popkulturhaltigem Bild- reichtum und Spielastik von überzeichneten Video- einspielen überhöht, bis am Ende alle in einer End- losschleife auf der Hüpfburg miteinander in der ewigen Wachstumsspirale festhängen, die nur durch eine Spende von Zuschauerseite in den Stillstand hinein manövriert werden kann.
Das Besondere an der trashartigen Collage aus Bild, Aktion, Musik und Video ist, dass Kinder und Erwachsene keine Bühnensynthese entwickeln, son- dern unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven auf Inhalt und Ästhetik nebeneinander bestehen bleiben, aufeinander prallen und irritierend schräg erscheinen. In dieser Schräge liegt ein Versprechen: die Bühne als Kommunikationsfläche zu verstehen, die eine undogmatische Form der Auseinandersetzung erlaubt, aus dem Nebeneinander verschiedener kul- tureller Vorlieben ein eigenständiges Werk zu erzeugen, das die herkömmliche Theatergeometrie in eine Art Patchwork-Family umbaut.
Das Konzept der SKART-Künstler reduziert die Kinder und Jugendlichen weder auf Material, noch funktionalisiert es sie zu Bedeutungsträgern für eine übergeordnete inhaltliche Absicht. Die Künstlergruppe fordert die Akteure und Besucher zu neuen Haltungen heraus, indem den Kindern eine eigenständige, kritische Position im ästhetischen Urteilen, inhaltlichem Denken und inszenatorischen Entscheidungen zu- gesprochen wird, die wiederum die Sichtweisen der Erwachsenen unterlaufen dürfen. Der Ansatz von SKART will durch dieses Aufeinanderprallen von Wirklichkeiten eine Suche nach gleichberechtigter Ausdrucksweise betreiben und in der Konsequenz auch Denk- und Geschmackshorizonte erweitern.
Die Vielstimmigkeit der Arbeit ist ein erkennbares Qualitätsmerkmal der Inszenierung und mit etwas Abstand betrachtet stellt sich die Frage nach dem konstitutiven Kern der Gruppe: Sind es die Urheber? Ist es das aktuell arbeitende Ensemble aus Erwachsenen und jungen Menschen? Sind es die Kinder und Ju- gendlichen, die SKART erst zu SKART machen? Im Unterschied zu „Einige von uns“ wird die kol- laborative Praxis in „Lucky Strike“ im szenischen Ergebnis augenfällig und verblüfft in ihrem Mut zur radikalen Brüchigkeit. Ein schrilles und schep- perndes, feinsinniges und unverkrampftes „Wem gehört die Bühne?“ führt hier zu lustvollen Erobe- rungsspielen, die eine ungewöhnliche Ästhetik her- vorbringen. Eine, die keinen Besitzer kennt, keinen Autoren hat, sondern durch die kritische Begegnung nur im Zwischenraum aller Beteiligten zuhause ist.
Eine augenfällige Besonderheit bekommt bei dieser Formation der soziale Akt als künstlerische Praxis. Von Joseph Beuys’Sozialer Plastik aus argumentierend, definieren SKART ihre Position als eine, die mit ihren Antagonisten zu einer selbstkritischen Masse verschmelzen will und auf einer selbstorganisierten, basisdemokratischen Grundlage operiert. Gelingt die Provokation von kollaborativen Spielzügen noch relativ berechenbar in Aktionen, die zwischen den Spielern liegen, stellt die theatrale Bühne ihre eigene Herausforderung an ein kollaborativ agierendes En- semble. Die Darsteller müssen nicht nur ihre Inhalte für Dritte zugänglich machen, sondern auch über den gemeinsamen Weg und dessen Transformation in ein Bühnengeschehen verhandeln, so dass das Hin und Her zwischen Verfahrensweise und Zeige- absicht spannungsreich und spannungsbereichernd ist. Mark Terkessidis formuliert in seiner Abhandlung „Kollaboration“ den Gap, den kollaborative Projekte überwinden müssen, wenn sie die Dimension des Zuschauers berücksichtigen, ohne sich an der „an- geblichen Authentizität der Community“ zu laben.5 Seine Schlussfolgerung macht deutlich, dass sich partizipative Projekte für gewöhnlich nicht im Prozess der Kollaboration erschöpfen, sondern die Schnittstelle zwischen Kunst und Kultur zum Problemfeld haben, das einer „ethische(n) Leitidee bedarf“. Diese fungiert im Prinzip einer kollaborativen Kunst aber „als soziale Praxis, die wiederum als ethische Zielsetzung nicht den Selbstausdruck des Individuums hat, sondern den Ausdruck des jeweils anderen fördert“.
Für Anarchie und Peinlichkeit
Postdramatisch, basisdemokratisch und antipädagogisch: Das Performance-Duo Skart erzählt in "Lucky Strike" das Märchen "Hans im Glück" neu
So empfänglich die acht Schüler der Rahlstedter Neuen Schule Hamburg für antikapitalistische Ideen auch sind, klare Grenzen gibt es doch: "Wenn man sich über Justin Bieber lustig macht, finden manche von denen das überhaupt nicht lustig", haben Philipp Karau und Mark Schröppel vom Performance-Duo "Skart" feststellen müssen. Aber auch Heiligtümer müssen zerstört werden: Eines der Kinder zwischen sieben und dreizehn Jahren wird in "Lucky Strike" seine blutigen Fantasien an dem kanadischen Teenieschwarm ausleben. Der steht als Pappaufsteller auf der Bühne - zusammen mit einem Papp-SUV, einer Louis-Vuitton-Stellwand, einer überdimensionalen Veuve-Cliquot-Flasche und einer Hüpfburg.
In "Lucky Strike" verarbeiten Skart das Märchen von Hans im Glück - als Allegorie der Verweigerungshaltung gegenüber dem Selbstoptimierungsdenken und dem Materialismus. "Lucky Strike" ist die erste Arbeit, die im Rahmen der zweijährigen "Doppelpass"-Kooperation zwischen Skart und Kampnagel entstanden ist.
Deren Ziel ist die Entwicklung eines postdramatischen Kinder- und Jugendtheaterprofils, das aber alle Altersschichten ansprechen soll. Deswegen legte Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard den beiden auch nahe, keinen deutschen Kindermärchentitel zu wählen. "Wir haben ,Hans im Glück' dann in schlechtes Englisch übersetzen wollen", erklären Skart: "Da kam erst ,Lucky John' bei raus, und daraus wurde irgendwie ,Lucky Strike'".
Seit 2006 machen die Theaterwissenschafts-Absolventen der Universität Gießen - und ehemaligen WG-Mitbewohner - unter dem Namen "Schröppel Karau Art Repetition Technologies" politische Anarcho-Performances irgendwo zwischen Dekonstruktion und Knallbonbon. Deren Ästhetik und basisdemokratischer Ansatz, erklären Skart, sei aus der Ablehnung der "gerne mal blöden, affektierten Exzentrik der Gießener Hipster-Off-Community" entstanden: "Ziel unserer Performances ist immer auch, Coolness-Codes zu durchbrechen und die Leute dazu zu animieren, zu ihren Peinlichkeiten zu stehen."
Mit "Der Fischer und sein Mann", einer Gender-Version des Grimm'schen Märchens, haben Skart 2011 am Theater Duisburg zum ersten Mal eine Kinderperformance inszeniert. Im Staatstheater werde Kindertheater oft geringgeschätzt, haben Skart beobachtet, in der Off-Szene aber finde es seit der ,Showcase Beat Le Mot'-Inszenierung vom Räuber Hotzenplotz vor sieben Jahren zunehmend Anerkennung. "Anti-Pädagogik" nennen Skart ihr Konzept, neben der anarchischen Komponente bedeute es, "soziale Interaktion zu reflektieren und bestehende Strukturen zu hinterfragen".
Bei den jungen Teilnehmern ist die Idee eines postdramatischen, basisdemokratischen Theaters allerdings nicht sofort auf Begeisterung gestoßen: "Kinder sind nicht per se kleine Anarchisten", vermuten Skart. "Die waren am Anfang nicht sehr angetan darüber, dass wir mit den üblichen Theaterkonventionen brechen." Auch das Gezanke darum, wer wann wie viel im Mittelpunkt stehen dürfe und wer welche Idee zuerst gehabt habe, sei zunächst noch groß gewesen. Irgendwann aber sei man dann an dem Punkt, an dem sie denken: "Ich bin stolz, wenn meine Idee performt wird, egal von wem."
Schließlich sollen die Kinder entdecken, was für eine kreative Spielwiese der Theaterraum ist, sobald Ego und Ängste erst einmal fallengelassen werden: "Auf der Bühne können sie alles herauslassen, was sie für peinlich halten, aber gerne machen. Oder sie stellen fest, dass ihre Schwächen eigentlich nur Eigenarten sind, die sie auszeichnen und liebenswert machen", erklären Skart. Im Idealfall kämen aus ihren Performances "reflektiertere, tolerantere und selbstbestimmtere Menschen heraus, egal welchen Alters". Wenn angesichts so hehrer Ziele Justin Bieber draufgehen muss, was soll's - ein bisschen Schwund ist immer.
Die SKART-Performance in der Brechtbühne – eine Begegnung
Philipp Karau und Mark Schröppel sind SKART – jenes Performance-Duo, das derzeit in der Augsburger Brechtbühne das Stück “Mein Freund, der Baum” zeigt. Judith Bohle spielt darin eine der beiden weiblichen Rollen. Oliver Brunner ist Dramaturg am Theater Augsburg. Im Foyer der Brechtbühne haben wir uns unmittelbar vor der dritten Aufführung über das Stück und seine Wirkungen unterhalten – neben einem Verriss in der Augsburger Allgemeinen und gemischten Publikumsreaktionen gehören dazu mittlerweile auch einige böse Leserbriefe mit zweifelhaftem Niveau.
Ein Rechtsanwalt aus dem Osten (der Name ist der Redaktion nicht bekannt) ist prototypisch für die sehr erregten Schreiber: Er habe gelesen …, verkündet der Jurist in einem Schreiben ans Augsburger Theater – und macht damit gleich mal klar, dass er das Stück gar nicht gesehen hat. Anschließend bombardiert er die Verantwortlichen mit juristischen Konvoluten und der Drohung, er werde sich an die wichtigen Sponsoren wenden, um Ähnliches zukünftig zu verhindern. Dass der Schreiber unter anderem den Namen des Dramatikers Samuel Beckett nicht richtig zu schreiben weiß, muss nicht verwundern.Philipp Karau gibt sich gelassen: Vor allem im Theater habe er durchaus heftigere Reaktionen erwartet. “Viele warnende Stimmen” habe es vor der Premiere gegeben, doch die “Angst vor dem Abo-Publikum” habe sich nicht bewahrheitet. Mittlerweile ist das Publikum beim “Baum” gemischt: Es kommen diejenigen, “die sich immer jedes Stück anschauen”, und gleichzeitig solche, die von der Diskussion darüber angelockt werden – “und in beiden Gruppen gibt es solche, die das Stück gut finden, und solche, denen es eben nicht gefällt.” Nach Ende der zweiten Vorstellung habe ein Zuschauer noch vor Einsetzen des Applauses seinem Ärger mit einem heftigen “Gott sei Dank!” Luft gemacht. Andererseits, so Karau, habe ihm in einer Augsburger Kneipe ein älteres Ehepaar zum Stück gratuliert: Die beiden fanden “Mein Freund der Baum” super und hatten lange darauf gewartet, dass “so etwas” auch mal in Augsburg zu sehen sei. Auch Mark Schröppel hatte gewisse Befürchtungen vor der Premiere: Er stammt aus Augsburg, ist hier zur Schule gegangen, glaubte, das Publikum und die Medienlandschaft zu kennen und hatte erwartet, “dass die Leute scharenweise buhen und rausgehen.”
Quietschbunte Bilder und lauter Elektrorock
So weit kam es nicht. Und dafür gibt’s ja auch, eigentlich, keinen Anlass, selbst wenn Schröppel und Karau nicht gerade vorsichtig mit den Emotionen des Publikums umgehen. Vor allem hauen sie ihm in hoher Geschwindigkeit und großer Lautstärke quietschbunte Bilder und sehr lauten Elektrorock um Augen und Ohren – die Musik ist oft zu laut, um die Texte zu verstehen, die Bilder wechseln zu schnell, um sie einzuordnen, die Botschaften sind zu verschlüsselt, um ad hoc Sinn und Unsinn zu trennen und sich sorgsam mit dem Geschehen auseinanderzusetzen. Das aber hat Methode: Es sei ja gerade das Schöne an ihren Performances, sagt Karau, “dass viele unterschiedliche Dinge passieren – denn das lässt viel zu.” Unter anderem will SKART dem Publikum zumuten, “zu akzeptieren, dass man eben nicht alles versteht.” Der Komplexität des Themas komme eine solche Vorgehensweise weitaus näher, “als wenn man ein enges Regiekonzept hat, in dem die Antworten schon enthalten sind.”
Apropos Thema: Es geht um Protest in dem Stück. Ein zuckersüßer Vortrag von Judith Bohle gleich zu Anfang mag noch dazu verführen, harmlos Ökokritisches à la “Wir haben nur eine Welt” zu erwarten. Wenig später allerdings wird das Publikum per Katapult mit riesigen Gummipenissen beschossen, erklären Rechtsradikale, warum sie keine “Ausländer” mehr haben wollen, singen schwarze amerikanische Schulkinder Hassparolen gegen “weiße Schweine”, wallfahrtet eine katholisch anmutende Prozession hinter einem Foto von Claudia Roth her. Skandalträchtigste Szene: Im Rahmen eines hippieesken Tanzes um einen großen Plastikkopf wird dessen Inneres gefüllt mit einer Mischung aus 1 Eigelb, 1 Fläschchen Pikkolosekt, 1 Schamhaar (live abgeschnibbelt) und 1 Schuss Urin (ebenfalls live produziert). Und, ja, die beiden Männer sind meistens nackt, mal unterm Lack-Mini, mal unterm Priestergewand und mal gar nicht verdeckt, in einer Szene kommt noch eine nackte Frau hinzu.
Provokation, na klar, sagen Schröppel/Karau – aber nicht als Selbstzweck. Zunächst mal ganz theoretisch: Es sei Grundprinzip jeder Art von Kunst, Kommunikation herauszufordern, Reaktionen zu erzeugen, Auseinandersetzungen zu provozieren. Aber an 08/15-Reaktonen wie “Buh” und demonstrativem Rausgehen sei ihnen nicht gelegen: Das sei auch “ein Generationending”, meint Karau, vor allem ältere Menschen wüssten ihrem Unmut und ihrer Verunsicherung oft nicht anders Luft zu machen, fühlten sich überfordert. “Wenn wir wollten, dass die Leute raus rennen – das könnten wir besser!”, beteuert er. Schröppel fügt hinzu, etliche Zuschauer lehnten den Zwang ab, selbst Stellung zu beziehen, sich mit dem Vorgebrachten auseinanderzusetzen: “Wir lösen die Forderung von Schillers Don Carlos ein – wir geben fünfzigfach Gedankenfreiheit.” Ein Teil der Leserbriefschreiber aber gehe mit dieser Freiheit “faschistisch an das Stück ran” – Schröppel meint damit die Forderung nach Ge- und Verboten auf dem Theater und “die Unfähigkeit, mit dieser Freiheit umzugehen.”
Es gibt zum Glück auch andere Zuschauer. Immer wieder hören die beiden den Kommentar, man müsse sich das Stück eigentlich zwei- oder dreimal ansehen, um mehr davon zu verstehen. Und dass nach den Vorstellungen eifrig diskutiert wird, hat auch Oliver Brunner festgestellt. Er stellt den Abenden kurze Einführungen voran, in denen er vor allem appelliert, man solle offen bleiben, das Stück auf sich wirken lassen. “Allein das bewirkt schon”, so Brunner, dass die Leute viel entspannter mit der Performance umgehen: “Es ist sehr lebendig danach”.
Dass manche rausgehen, ist durchaus legitim
Ist es eine schwierige Entscheidung, an solch einem Stück mitzuarbeiten? Schauspielerin Judith Bohle sagt, sie habe schnell zugesagt: “Ich hab’ mich interessiert für diese beiden Menschen, die sich in sehr einleuchtender Weise mit vielem auseinandersetzen, was ich kenne.” Dass dabei der Matrosenaufstand von 1918 mit “veganer Permakultur” und der Sesamstraße in einen Topf gerührt wird, dass Tabus mal gebrochen, mal zur Schau gestellt werden, dass Schlingensief zitiert, bewusst schlecht geschauspielert und gleichzeitig auf sehr hohem Niveau Theatertheoretisches umgesetzt wird, dass parodiert, geäfft, gelacht, dass mit Vermittlungsweisen und Rezeptionserwartungen gespielt wird – das alles kann man griesgrämig, aber auch mit Humor hinnehmen. Manche Szenen, die man Tage später immer noch nicht enträtselt hat, mögen ja bewusst eingesetzt worden sein, um den intellektuellen Allesversteher in die Irre zu führen. Über sowas darf man sich auch ärgern, selbstverständlich. Karau findet es daher “toll”, dass manche Zuschauer gehen: “Das ist legitim. Wir wollen doch keinen Zwang ausüben, und wir wollen genau nicht, dass die Zuschauer wegen der Etikette sitzen bleiben.”
“Skandal”, “Verschwendung von Steuergeldern”, wie die Briefeschreiber meinen? Aus der entgegengesetzten Blickrichtung könnte man dies auch ungleich teureren Produktionen unterstellen, beispielsweise der Augsburger Verdi-Premiere am vergangene Samstag. Eine völlig abstruse Handlung, garniert mit reichlich veralteter Musik, die die Kitschgrenze bisweilen mühelos überspringt – Kritiker könnten nicht ganz grundlos argumentieren: Ein überkommenen Traditionsdenken führe dazu, dass das Theater für “solchen Quatsch” Unsummen zum Fenster rauswerfe. Karau/Schröppel tun das nicht. Sie argumentieren mit einer erstaunlich integeren, aufrichtigen Ernsthaftigkeit für ihr Theater der schrankenlosen Freiheit. Das muss nicht, kann aber gefallen. Skandale jedenfalls finden anderswo statt.
Plastikschädel und Gummipenisse
Am Donnerstag, den 3. Oktober feierte die freie Performancegruppe SKART mit »Mein Freund der Baum« auf der brechtbühne Premiere und hat dabei sicherlich niemanden gelangweilt.
Das Rezept für einen Götzen: Ein wenig Sekt, ein Ei, eine Strähne Schamhaar, Spucke von allen anwesenden und - ganz wichtig - frisch abgelassenes Urin. Das Ganze wird dann in einem übergroßen, leuchtenden und durchsichtigen Plastikschädel durchgeschüttelt und über dem Publikum aufgehängt. Die Skurrilität solcher Momente war keine Seltenheit bei der Premiere von »Mein Freund der Baum«, einer Kooperation der freien Gruppe SKART und des Stadttheaters. Dass diese Art des Performancetheaters natürlich nicht jedem schmeckt, einige nur amüsiert und andere wahrhaftig schockiert, konnte man leider an dem etwas dünnen Applaus am Ende der Vorstellung feststellen. Allerdings zeigt SKART nicht einfach nur Penisse oder schleudert aufblasbare Nachbildungen derselben mit einem selbstgebastelten Katapult ins Publikum. Die Klammer des Abends war das Themenfeld »Protest«, das als Ausgangspunkt für die Performance gilt. So collagieren sie Audio-, Videomaterial und Fremdtexte von Erich Honecker über Valerie Solanas und Angela Davis bis hin zu Oskar Maria Graf mit ihrer performativen Darstellung. Auch wenn sicherlich die Bildgewalt und Reizüberflutung primär im Vordergrund des Abends steht, so scheinen die geschaffenen Bezüge und Querverweise dieses achronologischen Rundgangs durch die Protestgeschichte durchaus ein Gefühl für das Themengebiet zu vermitteln. Denn die gesamte Performance spielt mit Annahme und Ablehnung, zwingt den Zuschauer sich zu positionieren und hat am Ende sicherlich niemanden gleichgültig gelassen.
Protestkeule im Dauereinsatz
Eine knallbunte und brachial komische Retrospektive der Protestkultur vergangener Jahrzehnte ist die Performance Mein Freund der Baum, präsentiert wird sie von der Gießener Gruppe SKART, angeführt von Philipp Karau und Mark Schröppel, flankiert von Augsburger Schauspielern (Judith Bohle, Lea Sophie Salfeld, Sebastian Baumgart). Der Titel erinnert an bundesdeutsche Schlagerseligkeit - ist aber zugleich Ausdruck des aktuellen Protests gegen die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts.
Die über einstündige provozierende Collage mit Reminiszenzen an die Münchner Räterepublik, die Black-Panther-Bewegung, die ausgebeuteten Amazonas Indianer und vieles andere mehr, gräbt längst vergessene Stilmittel aus und präsentiert sie in neuem Licht der Öffentlichkeit: die altehrwürdigen Happenings der späten Sechzigerjahre zum Beispiel oder die aggressiven Eskapaden von Jérôme Savarys Le Grand Magic Circus, mit dem er in den siebzigern auch hierzulande das Publikum schockierte. Comic-Helden, lasziv gewandete Nonnen, eine ganze Fraktion der Heilsarmee und eine gesichtslose Papst-Marionette tummeln sich vor einer in allen Farben brüllenden Videowand, zugedröhnt von einer wummernden Bassgitarre und umstellt von „Kampfmaschinen“ (so das Programmheft), darunter ein mittelalterliches Katapult, mit dem man überdimensionale Gummi-Penisse und andere Leckereien ins mehr oder weniger amüsierte Publikum schleudert.
Dazwischen wenig leichtfüßiger Witz, viel plakativ zur Schau gestellte Nacktheit, viel papierene Rhetorik aus dem Politologie-Oberseminar, ein gerüttelt Maß an Nonsens-Ulk aus dem Studententheater und zum guten Schluss noch ein entfesseltes Ringelreihen-Gehopse aus der apokalyptischen Phase eines Kindergeburtstages: alles nicht so ganz brandneu.
Gefehlt hat lediglich das Eingreifen der Polizei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, weil erst dann die große Sehnsucht aller Avantgarde erfüllt worden wäre: der Übergang von Kunst in Leben. So aber bleibt neben dem verdienten Respekt für ein Ensemble, das an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit geht, nur höflicher Beifall des Establishments.
(Hanspeter Plocher, Bayerische Staatszeitung, Oktober 2013)
Krawall mit den Grimms
Krawall mit den Grimms
Windeln und Badelatschen trägt der eine, Strampelanzug und Propellermütze der andere. Hintern an Hintern tanzen sie zur elektronischen Musik aus den Boxen über das Parkett. Man merkt es nicht sofort, doch die Angst ist das große Thema an diesem Vormittag auf der TiL-Studiobühne.
Die Performancegruppe SKART (Schröppel Karau Art Repetition Technologies) zeigt das Märchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« für Zuschauer ab acht Jahren in einer anarchischen Version: mehr Deichkind als Gebrüder Grimm, mehr Krawall als Moral. Doch das Chaos auf der Bühne hat Methode: Nach ihrem Prinzip der Antipädagogik begeben sich Philipp Karau und Mark Schröppel, die sich in Gießen während des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaften kennenlernten, mit den Kindern im Publikum in Komplizenschaft. Da darf ein Patient auf dem Zahnarztstuhl malträtiert, ein Laubmonster verdroschen und der Tod höchstpersönlich ausgelacht werden.
Die Geschichte ist schnell erzählt: In einer Familie von Angsthasen, Bedenkenträgern und Risikoabwägern wächst der Jüngste auf. Sein Beitrag zum Hausfrieden soll sein: die teure Vase nicht zu zerstören; nach dem Spielen die Hände zu waschen; Vitamine zu essen. Bald fragt er sich: Ist diese Furcht, die von den Erwachsenen mit solch einer Inbrunst exerziert wird, die er selbst aber noch nicht kennengelernt hat, vielleicht ein spannendes Hobby der Erwachsenen? So nimmt das Märchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« seinen Lauf. Doch der Zahnarzt kann den Jüngsten genauso wenig schocken wie das Laubmonster oder eben der Tod persönlich. SKART zeigen in einem collagierten Bild- und Textreigen, wie Kinder mit ihren Ängsten, wie auch immer die letztlich aussehen mögen, umgehen können: Aufstehen. Lachen. Weitergehen. Die Moral bis zu diesem Punkt: Angst ist, was du draus machst. Ein Laubmonster kann man fürchten. Man kann es aber auch als das entlarven, was es eigentlich ist: ein Komposthaufen. Die Furcht, jene in seiner Familie so verbreitete Form, lernt der Jüngste in diesem schrillen Bühnenchaos nicht kennen.
»Na, dann zieht mal in den Krieg«, spricht plötzlich eine verzerrte Stimme aus dem Off. Und alles kippt. Vorbei das fröhliche Deichkind-Theater mit den bunten Videos auf der Leinwand und den lustigen Jungs auf dem Parkett. Nun werden die Kinder aus dem Publikum zum gemeinsamen Marschieren und zum Präsentieren der Spielzeugpanzerfaust gerufen. Das lockere Pop-Art-Märchen verkehrt sich ins Gegenteil. Das Lachen erfriert zu einer Maske, auch wenn SKART nicht den Anspruch verfolgen, eine endgültige Botschaft vermitteln zu wollen.
Selbst beim Zahnarzt keine Angst
Selbst beim Zahnarzt keine Angst
Anarchisch-komische Interpretation des bekannten Grimm'schen Märchens auf der Theaterbühne
Ist Angst etwa ein Hobby der Erwachsenen? Macht Angst sogar Spaß? Auf eine verstörend-komische Reise auf der Suche nach der Angst begibt sich der Hauptprotagonist der interaktiven Musicalperformance „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“, die am Dienstagmorgen Premiere auf der TIL-Studiobühne feierte.
In der anarchisch komischen Interpretation des Märchens der Brüder Grimm erforschte das Kollektiv SKART, bestehend aus ehemaligen Studenten der Angewansdten Theaterwissenschaften in Gießen, das Thema Angst in all seinen Ausdrucksformen. Als Inbegriff des Bösen entsteigt zunächst ein finsterer, schwarz gekleideter Death-Metal-Typ einem Papierkokon unter der Bühnendecke und versucht auf der mit rotem, aggressivem Lack ausgelegten Bühne im Publikum Angst und Schrecken zu verbreiten. Dieser Versuch misslang jeoch gründlich.
Aber genau hier setzt das temporeiche, wild-chaotische und kreative Stück an. Der „eine, der auszog“ kommt aus einer Familie, wo er neben den alltäglichen Ängsten der Eltern, Großeltern und Geschwister wohl behütet zwischen „Sanddorn-Bio-Fruchtschnitte“ und Tennisunterricht aufwächst. Selbst komplett furchtlos, packt ihn eines Tages die Neugier, wo diese Angst überhaupt zu finden ist.
Nahezu herausfordernd begibt er sich in alltägliche Angstsituationen, die dem schier unerschütterlichen Bengel im rosafarbenen Teddybär-Schlafanzug und der Karlsson-Propeller-Mütze jedoch nichts anhaben könne. Weder die traktierende Behandlung in der Angstpraxis eines Zahnarztes, in welcher mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Publikum Lollibohrer und wasserspritzen zum Einsatz kommen, noch die Begegnung mit dem Tod in Form eines etwas tollpatschigen, unförmigen Sensenmannes können ihn das Fürchten lehren.
Durch die mehrschichtige Collagentechnik des Stückes, die mit Hilfe von eingespielten, parallel laufenden Videosequenzen erzeugt wird, wird der Betrachter jedoch in zweiter Ebene hinter aller Komik mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert. Etwa die grauenerregenden Bilder einer brutalen Zahnbehandlung, die kontrastreich zum turbulenten, eher witzigen Geschehen auf der Bühne fungierten. Zudem werden hier Klischees aufgegriffen, die beispielsweise mit massiven Markenwerbeblöcken die Angst „nicht dazuzugehören“ symbolisierten. Am Ende der Aufführung, die in einer turbulenten Kriegsszenerie mit rosa Maschinengewehren und fast allen Anwesenden auf der Bühne in einem riesengroßen Schlachtfeld endet, hatten wohl alle wenigstens kurze Erinnerungen und Bilder der eigenen Ängste vor Augen – wenn auch icht unser Hauptprotagonist.
Im anschließenden Gespräch mit Abdul M. Kunze, dem Leiter des Kinder- und Jugendtheaters, konnten die Gäste offene Fragen klären, eigene Angstsituationen schildern und zudem die beiden Darsteller mit Fragen bombardieren. Philipp Karau und Mark Schröppel bilden das Kollektiv SKART, das sie im Zuge ihres gemeinsamen Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen gründeten. Sie arbeiten seit 2009 mit dem Münchener Künstler und Bühnenbildner Stephan Janitzky zusammen und verwirklichen Projekte im Bereich multimedialer, bildender Kunst und von elektronischer Musik geprägte Theaterstücke.
Die Angst erklären – SKART krempelt TIL um
Zwei ehemalige Studenten der Gießener Theaterwissenschaft krempeln das bekannte Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ total um.
Sie „kochen“ es für Achtjährige poppig, surreal und comichaft auf, lassen keine krachende Musik, keine psychedelischen Flimmerbilder aus, um ein Publikum, das durch die Medienflut verwöhnt ist, im TIL 60 Minuten bei der Stange zu halten.
SKART nennen sich Philipp Karau und Mark Schröppel, die als Laubmonster, Tod, Waffenträger oder Zahnarzt versuchen, den Kindern die Angst vor der Angst zu erklären.
Spritzen beim Zahnarzt erschrecken ebenso wie Explosionen.
Die jugendlichen Zuschauer lassen sich nur mühsam bewegen, das turbulenteSpiel mitzumachen – aus Angst, sich auf der Bühne vor den Mitschülern zu blamieren, wie im zögerlichen Abschlussgespräch klar wurde.
Dabei geben sich die beiden quicken Spieler jegliche Mühe, ihren Zuschauern das Gruseln beizubringen. Überdrehte, verzerrte Stimmen aus dem Off, eine beängstigende Bilderflut münden in szenischem Müll. Riesengroße Spritzen beim Zahnarzt oder Atomexplosionen auf Monitoren besitzen großen Unterhaltungswert. Lösungen bieten, wie in der Nachfrage erläutert , die beiden Mimen nicht an. Eine „interaktive Musikperformance“ nennt sich die absurde Kurzweil.