Eine düstere Zusammenkunft
Eine düstere Zusammenkunft
Kleine Szenen und absurde Bilder: In „Funny Games“ setzt sich in Hamburg ein Ensemble mit den dunkleren Seiten gemeinsamen Spielens auseinander.
Zwei Kinder stecken in bunten Kostümen aus vielen verschiedenen Stoffen und mit Holzstöckern
Anarchischer Bastel-Charme:
Noch mal! Noch mal! Wer Kinder kennt, kennt die Forderung, das letzte Spiel immer wieder zu wiederholen. Dass irgendwann Schluss sein muss, muss man ja erst mal lernen. Auf der Kampnagel-Bühne in Hamburg ist es noch dazu ein Spiel mit einer Schusswaffe. Die knappen Regeln hat eines der Kinder vom altersgemischten Ensemble Skart & Masters of the Universe (MOTU) vorher laut in die Halle gerufen: 1. Es wird getan, was ich sage! 2. Es wird dieses Ding hier benutzt. 3. Du schießt damit einen Pfeil durch den Apfel auf seinem Kopf. Und Schuss!
Zwischen Bogen und Apfel ist ein durchsichtiges Band gespannt, verfehlen kann der Pfeil sein Ziel also gar nicht. Aber er prallt am Apfel ab und bleibt vor der Stirn in der Luft hängen. Noch mal! Und Schuss! Beim zweiten Mal bleibt er auf halber Strecke stecken. Noch mal! Und Schuss! Schließlich senkt sich ein großes rosafarbenes Tuch mit zwei Augen darauf über die Szene. Es wird dunkel, Licht flackert, aus den Boxen dröhnt ein Sound, als ob ein Hubschrauber über der Halle hin und her fliegt.
Es ist das letzte Spiel der rund einstündigen Performance „Funny Games“, in der sich Skart & MOTU gemeinsam mit dem inklusiven Kollektiv Meine Damen und Herren zum zweiten Mal mit dem gemeinsamen Spielen beschäftigen. Mit dem gleichnamigen Filmexperiment von Michael Haneke über ein brutales Spiel um Leben und Tod, hat das Stück dabei tatsächlich eines gemeinsam: Während es im Vorgänger „Spielen #1“ um die Freiheit ging, nicht alles zu tun, was man muss – und es auch nicht unbedingt können zu müssen -, sind es diesmal die unangenehmen Seiten des Spielens: wenn zu viel gespielt wird, zu lang oder zu rücksichtlos. Wenn es an die Gewalt rührt.
Auch diesmal gibt es keine Geschichte und keinerlei ausdrückliche Moral. Es sind kleine Szenen und absurde Bilder von Spielritualen, die die Performer:innen in bunt-trashigen Kostümen aus Textilien, Schaumstoff oder Luftballons ausprobieren.
Hin und her
Eine riesige Schaukel steht dafür im Hintergrund der Bühne. Durchgeschnittene Stühle und Absperrgitter liegen am Boden, als steckten sie in ihm. Daneben ragen antike Säulen schief aus dem Boden, dahinter so etwas wie ein Höhleneingang, ebenfalls aus Stühlen. Am rechten Rand stehen Mikrowellen. Beim Vorgänger sah die Bühne aus wie ein aus den Fugen geratener Spielplatz. Diesmal ist es eher eine Ruine.
Aus am Boden verteilten Paketen schälen sich am Anfang des Stückes die Performer:innen und beginnen, mit ihren merkwürdigen Kostümen ungelenk erst mal zu lernen, wie sie sich fortbewegen können. Einer von ihnen in einem glänzenden schwarzen Anzug mit schwarzem Motorradhelm klettert auf die linke Seite der Schaukel, die anderen versammeln sich am anderen Ende. Als auch dort ein Mädchen in einem voluminösen weißen Kleid auf der Schaukel sitzt, bringt der Rest mit Seilen die Schaukel in Betrieb. Hoch und runter geht es -- bis die Bühne dunkel wird und auch hier das brummende Flackern beginnt.
In einer anderen Szene liegt eine Person unbekleidet auf einer Bahre. Reihum sprechen die Performer:innen ein paar Sätze und waschen, bemalen oder bestreuen den Körper. Station um Station wird er dabei näher an den Stuhl-Eingang gezogen, der sich nun als Krematorium entpuppt. Unter lautem Knistern und flackernden Licht verschwindet er schließlich darin.
Eine weitere Szene wirkt wie ein Spiel an den Grenzen zur Gewalt: Ein Karton, der von der Decke fällt, wird erst mit Gesängen im Kreis umtanzt, schließlich mit Stöcken gepiekst und wie eine Pinata auf einem aus den Fugen geratenen Kindergeburtstag zerprügelt. Die Reste werden zerrissen.
Unfertig fertig
Was das alles zu bedeuten hat? Wer weiß es schon genau? Viel wichtiger als das Produkt, das merkt man dem Abend immer wieder an, war das gemeinsame Produzieren. Trotz aller Altersunterschiede und Machtgefälle sollen alle gleichberechtigt und dabei professionell zusammenarbeiten, so der ausdrücklich antipädagogische Anspruch: ein emanzipiertes, gemeinsames Lernen. Und die Theaterformen, die dabei entstehen, sollen ebenfalls ganz ausdrücklich unfertig und allen zugänglich sein.
Weil all die wunderbar unterschiedlichen Performer:innen sichtlich mit großer Hingabe, Präzision und Ernsthaftigkeit dabei sind und die Bilder, die dabei herauskommen, faszinierend anzusehen sind, funktioniert dieser düstere Spielereigen ganz wunderbar.
Nicht zuletzt, weil man für so ein Spiel mit unfertigen Formen auch im Publikum gar nichts darüber wissen muss, wie das sonst so sein soll und muss im Theater, angeblich. Denn am Ende ist es wie am Anfang, auf der dunklen Bühne liegen alle Performer:innen wieder wie Pakete. Auf dass sie sich immer wieder auf ein Neues auspacken können und das Theater wieder auf eines Neues beginnt, ganz am Anfang.
"Funny Games“ ist kein leichter Stoff, sicher nicht, aber diesen Stoff durchzustehen, das macht gehörigen Spaß.
Hamburg. Das Kollektiv SKART/Masters of the Universe zeigt ein Spiel, das ständig auf der Kippe steht. Die Bühne gleicht einer Müllkippe.
„Funny Games“ ist ein recht fieser Film von Michael Haneke, bei dem zwei Jugendliche eine Familie diskurssinnig abschlachten. Auf den ersten Blick hat die Kampnagel-Performance „Funny Games“ des altersübergreifenden Kollektivs SKART/Masters of the Universe in Zusammenarbeit mit dem inklusiven Ensemble Meine Damen und Herren nichts mit dem 1997 gedrehten Film zu tun, aber: Hier wie dort geht es um Spiel, das unvermittelt in Gewalt kippt, und es geht um ein Hinterfragen der Gattungskonventionen.
Die Bühne gleicht einer Müllkippe: Antike Säulen, Geländer, ein Turm aus Bürostühlen. Die Ausstattung scheint halb im Bühnenboden zu versinken, und über allem wölbt sich eine riesige Stahlwippe. Nach und nach schälen sich die Performer aus Säcken, Kartons und Kisten heraus, wie Vögel, die sich aus Eiern picken, so langwierig wie liebevoll. Ein Einstieg als einleuchtende Antwort, wie man einen Schauspieler überhaupt auf die Bühne bekommt: nämlich als Geburtsvorgang. Dieses Theater ist mindestens so sehr theaterwissenschaftliche Theorieübung, wie es phantasievolles Bildertheater ist.
Die Wesen derweil haben sich ihrer Einfassungen entledigt. Und was machen sie jetzt? Sie spielen. Zunächst mühevoll, bald aber erfolgreich beklettern sie die Wippe und wirbeln durch die Lüfte, während ohrenbetäubender Modern-Talking-Schlager durch den Saal dröhnt. Das ist geschmacklich herausfordernd, es ist aber auch pure Lust an Bewegung und an Verausgabung. Doch, wie gesagt: „Funny Games“ hat auch etwas mit Grausamkeit zu tun. Unvermittelt bricht der Song ab, das Licht wechselt, und Mark Schröppel, der gerade noch oben auf der Wippe trohnte, wird den Rest des Abends an der Bühnendecke hängen.
Das durchzieht den ganzen Abend: Eine Spielsituation wird etabliert, eine Weile lang gibt man sich dem Spiel hin, und plötzlich kippt es, plötzlich spürt man Aggression, Gewalt, Zerstörung. Und Cut. Einmal werden zwei Darsteller aneinander gefesselt, das übrige Ensemble streichelt sie, bepustet sie mit Seifenblasen, das hat etwas Spielerisches, Zärtliches. Aber als dann eine Klobürste ins Spiel kommt, wird die Zärtlichkeit grob, die Verkrampfungen beim Kitzeln wirken schmerzhaft. Ständig steht hier etwas auf der Kippe, wird Nähe zum Übergriff, wird Spiel zur Verletzung.
Die verschiedenen Darsteller arbeiten integrativ zusammen – Kategorien wie Behinderung oder Alter sind zwar sichtbar, aber sie sind nicht wichtig für die Performance. Was dagegen wichtig ist: Lust an der Ernsthaftigkeit des Spiels. Jedes Element des Abends wird ernstgenommen, und wenn es eine Viertelstunde dauert, eine junge Darstellerin einen Vorhang zur Seitenbühne schleppen zu lassen, dann gibt man ihr auch diese Viertelstunde. „Funny Games“ ist kein leichter Stoff, sicher nicht, aber diesen Stoff durchzustehen, das macht gehörigen Spaß.
Krasser Abend auf der Bühne: „Lasst uns Satanismus spielen“
Hamburg. Auf der Kampnagel-Bühne steht ein Müllcontainer, auf diesem Container stehen die Worte „Ich bin krass“. Und vielleicht bringt das die Stimmung von „Spielen #1“, einer Koproduktion des altersgemischten Kollektivs SKART/Masters Of The Universe und der inklusiven Theatergruppe Meine Damen und Herren, gut auf den Punkt. Krass geht es zu, in dem rund einstündigen Abend, der verschiedene Aspekte des Spiels in den Blick nimmt.
Man spricht ja vom Theaterspiel, aber eigentlich führt das auf eine falsche Fährte. Theater ist aufs Publikum hin ausgerichtet, Spiel aber ist etwas, das ganz für sich steht. Und entsprechend ist das Einstiegsbild von „Spielen #1“ auch eines, bei dem die Zuschauer außen vor bleiben: Die Bühne ist ein Spielfeld, und die Darsteller spielen für sich, konzentriert, abgewandt.
Satanismus als Kinderspiel: Auf Kampnagel geht es krass zu
Es passiert durchaus einiges, aber das passiert für die Akteure, nicht fürs Publikum. „Spielen ist die Freiheit, nicht das zu tun, was man muss“, verrät der Programmzettel. „Und nicht unbedingt zu können, was man tut. Man weiß nicht, wie es endet. Oder welchem Zweck es dient.“ Und entsprechend ist auch der Einstieg des Stücks konsequent, wenn dieses schon zum wiederholten Mal miteinander arbeitende Ensemble aus Kindern, Erwachsenen, Menschen mit und ohne Behinderung mit Hühnereiern vor sich hinspielt.
Fast ist man nach einer Weile enttäuscht, als dann doch noch Struktur in den Abend kommt, als eine Performerin mit einem Spielzeugauto über die Bühne kurvt und der Sound konkreter wird. Andererseits ist das dann doch ein hübsches Bild: Die junge Frau im Auto, das restliche Ensemble in ihrem Schlepptau, ein Beat, der einen coolen Kopfnickerrhythmus provoziert.
Also: schön. Aber ohnehin nicht von Dauer.
Spielen #1“ erweist sich als einigermaßen ungemütlicher Abend
Denn: Das Spielen ist seiner selbst immer wieder überdrüssig, weswegen schnell die Position geändert wird. Es folgt eine wilde Kissenschlacht, ein Rumsauen mit Eiern, irgendwann eine ziemlich beunruhigende Bestrafungsphantasie. Spätestens jetzt ist das Spiel in die Nachbarschaft des Traumes gewechselt und von dort geht es direkt zum Alptraum, in dem ein wütend knurrender Osterhase Amok läuft.
Und was in diesem Traum-Alptraum-Spiel als Ausweg aus dem Horror angeboten wird, beruhigt ebenfalls wenig: „Hört auf, den Osterhasen zu ärgern!“, ruft eine Kinderdarstellerin. „Lasst uns lieber Satanismus spielen!“ Worauf blutige Rituale ins Zentrum rücken und ein böses Glaubenbekenntnis formuliert wird: „Mutter – wir verachten dich!“, murmeln die Darsteller, „Vater – wir verachten dich!“ Aber gemach, das ist nicht ernst, nach und nach wird ohnehin alles verachtet, bis hin zum Haustier. Nicht so schlimm. Trotzdem krass.
„Spielen #1“ erweist sich so als ungemütlicher Abend. Aber auch als Theater, das gerade deswegen funktioniert, weil es kein Theater sein will, sondern selbstbezügliches, verrätseltes, zwischendurch auch erotisches Spiel. Wobei dieses Funktionieren am Ende womöglich das Scheitern des Stücks bedeuten würde. Denn, wie gesagt: Spielen, das heißt nicht, dass ein Publikum ein rundes Stück zu sehen bekommt.
Eine andere Ästhetik und ansteckender Spaß
Meine Güte, wie sieht’s denn hier schon wieder aus!?! Wie ein großes Kinderzimmer, wenn die Aufsichtspersonen mal länger nicht da waren, um das Spielen in seine Grenzen zu verweisen!
So wirkt die viereckige Bühne auf Kampnagel, um die herum das Publikum am Mittwochabend Platz nimmt. Schlicht „Spielen #1“ heißt die Performance, die die Gruppe Skart gemeinsam mit dem altersübergreifenden Kollektiv „Masters of the Universe“ (mit Mitgliedern zwischen acht und 40) und dem inklusiven Hamburger Ensemble „Meine Damen und Herren“ entwickelt hat.
Was war hier bloß los? Überall Farbkleckse auf dem Boden und Gekritzel und herumliegende Spielsachen. Riesige, umgekippte Vasen mit Teletubbies darauf, die jetzt aussehen wie ausgekippte Füllhörner. Am Rand steht eine große Mülltonne, auf die jemand „ICH BIN KRASS“ gekritzelt hat, das „A“ ist ein Anarchiezeichen. Daneben stehen eine kleine Küche mit einem „happy kitchen“-Schild darüber und eine Empore mit zwei großen Kirschen darauf. Auf einem verspiegelten Podest gegenüber liegen Zuckerpackungen und verstreute Zuckerkristalle. Hier wurde offenbar lange und ausgiebig und sehr frei gespielt und gebastelt – und keiner denkt ans Aufräumen.
Die Performer:innen des Abends sind Kinder von SKART und Mitglieder von Meine Damen und Herren. In bunt-verspielten Trash-Bastel-Kostümen sitzen sie zu Beginn auf der Bühne: als Biene mit einem aufgeklappten Laptop als Flügel auf dem Rücken zum Beispiel oder als zotteliger Hase mit vier Ohren und pinken Bärchen-Hausschuhen. Ein kleines Mädchen hat eine Weste mit dem Symbol der Hausbesetzerszene an. Die meisten spielen zu klackernden Elektronikklängen müde mit Hühnereiern. Ein Mädchen zündet Kerzen an und klebt sie im Gittermuster auf den Boden.
Dann ein Techno-Beat, ein Mädchen fährt in einem blinkenden Elektro- Spielzeugauto auf die Bühne, die anderen beginnen mit merkwürdigen Schritten hinter ihm herzulaufen. Spielen eben. Plötzlich wird es dunkel. „Ich habe Angst“, ruft jemand. Ein Spot geht an und ein Wesen hält mit lauter Stimme von der Empore eine abstruse Anklage: „Als Richterin verurteile ich dich schuldig, nicht schuldig zu sein!“ Die Strafe: 18 Jahre Kippendrehen, aber es seien eigentlich 36 Jahre, weil man nicht schlafen dürfe, um die Strafe voll und ganz auszukosten. Stubenarrest.
Anarchisch antipädagogisch
Eine Stunde lang probieren die Performer:innen in verschiedenen Szenen solche Spielrituale aus: eine Kissenschlacht mit dem vierohrigen Hasen, der sich als Osterhase entpuppt, zum Beispiel – bis das kleinste Mädchen ans Mikro tritt und mit düsterer Stimme sagt: „Hört auf, den Osterhasen zu ärgern! Lasst uns lieber Satanismus spielen!“ Ein Spielfeld wird ausgerollt, ein Junge schreibt mit roter Farbe wie mit Blut „Ja“ und „No“ in vier Felder, alle beginnen in schwarzen Kutten und stockenden Schritten eine Prozession um das Feld. Wer geopfert wird, das wird wie im Kinderspiel mit Schere, Stein, Papier entschieden. Aber es gibt auch Seilspringen mit verbundenen Augen, Herumspringen vor der Windmaschine. So was.
Eine Geschichte erzählt der Abend dabei nicht. Denn erklärtes Ziel des von Skart ist seit zehn Jahren ein Theater der ausdrücklich unfertigen Formen: „Spielen ist die Freiheit, nicht das zu tun, was man muss. Und nicht unbedingt zu können, was man tut. Man weiß nicht, wie es endet. Oder welchem Zweck es dient“, steht dazu diesmal im Stückzettel. Kein Erbauungstheater für Kulturerfahrene will das sein: Als Zuschauende:r muss man nichts darüber wissen, wie Theater sonst so auszusehen hat.
Hier geht es weniger ums Produkt als um das gemeinsame Produzieren. Schon in der Entstehung der Stücke sollen alle gleichberechtigt und zugleich professionell zusammenarbeiten – trotz altersbedingter und anderer Machtgefälle. So soll ein Theater der neuen Generation und eine neue Generation von Theater zugleich erprobt werden: basisdemokratisch, anarchisch postdramatisch und antipädagogisch. Alle an der Produktion Beteiligten sind alles zugleich: Ideen-geber:innen und Regisseur:innen, Darsteller:innen und Autor:innen, Bühnen- und Kostümbildner:innen. Ein emanzipiertes, gemeinsames Lernen voneinander soll das sein statt machtbasierter, verdummender Pädagogik.
Bekannt sind SKART für opulente und multimediale Spektakel wie ihre trashige Trilogie über Materialismus und Überfluss: „Lucky Strike“, „Schlaraffenland“ und „Exodus“. Diesmal ist das Ergebnis etwas leiser, kleine Szenen, die eine eigene Ästhetik entwickeln wie dieses beeindruckend selbstbewusst-zärtliche, ausgiebige Zuckerbad von „Meine Damen und Herren“-Performerin Paula Stolze.
Zu sehen und zu kritisieren gibt es hier am Ende also gar nichts, was den Anspruch erhöbe, fertige Kunstform zu sein, deren Mängel man kennzeichnen müsste. Denn eins hat man dann ja doch gelernt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, immer wieder geht das Theater von vorn los. Dabei zuzuschauen ist auch ganz ohne Moral am Ende faszinierend und ansteckend. Und zu Hause fängt man an, die alten Bastelsachen wieder herauszuholen.
Welt ohne uns [...] war eine der berührendsten Sachen, die ich seit langem sah.
Ich bin kein großer Freund von Superlativen in Theaterkritiken, eigentlich sollte die genaue Beschreibung des Gesehenen schon klarmachen, wie gut ein Abend war. Aber: „Welt ohne uns“ von Theaterensemble "Meine Damen und Herren", SKART und Masters Of The Universe auf Kampnagel - Internationales Zentrum für schönere Künste war eine der berührendsten Sachen, die ich seit langem sah.
Traumbilder, mal besänftigend, mal verstörend
Das Ensemble Meine Damen Und Herren ruft zum Performance-Totentanz: Was wird aus der "Welt ohne uns“?
Hamburg. Brian Wilsons Stimme schmeichelt sich durch die Kampnagel-Halle, harmonisch, lieblich. Aber was Wilson da singt, ist ziemlich verschattet: „I’m A Leaf On A Windy Day / Pretty Soon I’ll Be Blown Away / How Long Will The Wind Blow / Until I Die?“, ein Blatt tanzt im Wind, und bald ist es weggeweht. Was hier süßlich durch den Saal klingt, ist Todesahnung.
Mit der Performance „Welt ohne uns“ beschäftigt sich das inklusive Hamburger Theaterensemble Meine Damen Und Herren zum wiederholten Mal mit utopischen Konzepten, und diesmal fragt die Utopie: Was wird sein, wenn wir nicht mehr sind?
Das hängt auch mit der existenziellen Erfahrung der Corona-Pandemie zusammen, der Menschen mit Behinderung durch Vorbelastungen und die erhöhte Gefahr, schwer zu erkranken, besonders ausgesetzt sind. Aber gleichzeitig stellen Meine Damen Und Herren hier auch Fragen, die jeden betreffen – der Tod ist ein allgemeingültiges Phänomen. Und wegducken gilt nicht.
Theaterkritik: "Welt ohne uns" auf Kampnagel
Schon in früheren Arbeiten haben Meine Damen Und Herren die Dramenstrukturen nach und nach aufgelöst, jetzt – in Zusammenarbeit mit dem postdramatisch arbeitenden Duo SKART und dem altersgemischten Kollektiv Masters Of The Universe – gibt es praktisch überhaupt kein Stück mehr.
Stattdessen entwickeln die Performer Bilder, die näher an der Bildenden Kunst angesiedelt sind als am Theater. Nicht ohne Grund besteht der Beginn von „Welt ohne uns“ aus so genauen wie ausführlichen Beschreibungen des Bühnenaufbaus: hier eine Palme aus Wohlstandsmüll, dort ein Grabhügel, außerdem Heimorgeln, mit Schrauben verziert – das ist eine Rauminstallation, keine Theaterausstattung im engeren Sinne.
Berührende Momente, aber auch harter Stoff
Die Bilder, die hier aufgerufen werden, sind Traumbilder, mal besänftigend, mal verstörend. Ein lebloser Körper wird so mühe- wie liebevoll geschminkt, nur um sich gegen Ende wie aus einem tiefen Schlaf zu erheben. Eine vor Angst schreiende Gestalt wird über die Bühne geschleift. Ein männlicher Leib dümpelt in einer bräunlichen Flüssigkeit, um schließlich mit einer Art Flaschenzug in die Höhe gezerrt zu werden – da erinnert der Abend ein wenig an die hochgelobte Gewalt-Sexualität-Artistik einer Florentina Holzinger, was einen Hinweis darauf gibt, welches bühnentechnische Niveau Meine Damen Und Herren mittlerweile erreicht haben.
„Wer Angst vor dem Tod hat, wird sich nach diesem Stück darauf freuen“, kündigt der Programmzettel an, was nicht ganz korrekt ist. Ja, der Abend hat seine berührenden Momente, aber das Stück ist auch harter Stoff, bedrückend, grausam. Auf der Bühnenrückwand ist eine Collage zu sehen, Bilder von Todesritualen – Viren, Gerippe, mittendrin der mittelalterliche Kupferstich eines Totentanzes. Und vielleicht sagt dieses Bild etwas darüber aus, was der Reigen „Welt ohne uns“ über den Tod verrät, einen Tod, der gleichzeitig fröhlich sein kann und entsetzlich.
Tod für alle
Auf Kampnagel startet das doppelt inklusive Stück „Welt ohne uns“
Nun ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die Brüder Grimm Inklusion und performative Künste im Sinn hatten, als sie die Erzählung vom „Gevatter Tod“ in ihre Märchensammlung schrieben. Sie wissen schon, die vom Sensenmann, „der alle gleichmacht“. Bestreiten lässt sich die Nähe aber kaum: zwischen Diskursen über Tod und Gleichberechtigung, zwischen ideellem Wert des Lebens und den ganz anderen herrschenden Realitäten.
„Welt ohne uns“ ist ein Theaterstück über den Tod und wird am heutigen Mittwoch seine Uraufführung auf Kampnagel erleben. Eine inklusive Produktion ist es gleich auf zwei Ebenen. Zum ersten Mal haben hier nämlich die Gruppen „Meine Damen und Herren“ (aus Theaterschaffenden mit und ohne Behinderung) und das altersübergreifende Kollektiv „Masters of the Universe“ (Motu) zusammengearbeitet.
Beide bringen Menschen auf die Bühne, die dort sonst in der Regel nicht angemessen repräsentiert werden. Einig sind sich beide Gruppen allerdings auch darin, dass das allein noch längst nicht reicht: Beide verstehen sich weniger als Sozialprojekte, denn als Kunstschaffende auf der Höhe der Zeit. So ist schon der Ansatz von „Welt ohne uns“ nicht nur durchdrungen von Performance- und Körperwissen, sondern reflektiert stets auch die Bedingungen der eigenen Entstehung.
Das ist fraglos ein Gewinn für die Darstellenden, aber sind solche Überlegungen auch interessant fürs Publikum? Vorsichtig prognostiziert: ja. Denn auch wenn vordergründig der Witz und die schon beim Vorgespräch überbordende Spielfreude der Akteur:innen im Mittelpunkt stehen (ganz zu schweigen von der meterhohen Eisstielpalme, einem Schlauchboot voller Schlamm, dem rituellen Essen der Totenasche oder der Tatsache, dass in dem modrigen Boot später auch noch gebadet wird) – entscheidender ist doch das angepeilte Abstraktionsniveau dieser Arbeit.
Es sei nie darum gegangen, sagt Mark Schröppel von Motu, „zu einer einheitlichen Todesreflexion zu finden“. Vielmehr sei über das gemeinsame Philosophieren, Spielen und die kollektive Stückentwicklung „ein gemeinsamer Erfahrungshorizont“ entstanden, aus dem sich die körperlichen Elemente entwickelt haben. Und der ist schwer zu fassen, aber doch auch von außen fühlbar. Und es ist Kopfarbeit: Der inklusiv und gruppenübergreifend besetzte „Regie Think Tank“ hat abstrakte Diskussionen in assoziative Bilder verwandelt und sich bewusst gegen Kitsch gestellt, gegen religiöse Vereinfachung oder esoterische Heilsgeschichten. Ob’s geklappt hat, sehen Sie ab heute Abend