Für das Theater der Zukunft
Hamburg. "Frei-heit, Frei-heit", skandierte, im Sound-Loop minutenlang zu hören, die Fanmasse eines Pop-Konzerts. Jeder Einzelne von ihnen versteht vermutlich darunter etwas anderes. Genau wie die etwas ratlos vor geschlossenem Tarnnetz-Vorhang lauschenden Besucher der Performance "Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker" beim Start des Körber Studios Junge Regie 2012 im Thalia in der Gaußstraße. Einige nahmen sich denn auch die Freiheit, den Saal zu verlassen.
Mark Schröppel und Philipp Karau vom Kollektiv Skart aus Gießen - zugleich auch die Performer - demonstrierten reichlich künstlerische und körperliche Freiheiten in ihrer satirischen Collage über die Befindlichkeiten der Deutschen zwischen Nazi-Vergangenheit und neoliberaler Gegenwart. Sie sprangen spielerisch mit den Idol- und Klischee-Bildern von rechts und links, von DDR und BRD um und demontierten sie respektlos. Nur mit Enten- und Froschkopf bekleidet, führten sie Ideologie-Dispute ad absurdum und outeten sich als Fans von Fritz Teufel - für das frech-fröhliche Duo der "Archetypus des Freigeists".
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Dann lieber die bisweilen naive Radikalität des Skart-Kollektivs. Es bedient sich locker der Old-School-Formen wie Dada, Performance oder Punk, formuliert aber daraus eine neue, an bildender Kunst orientierte Sprache - gegen die Theaterkonvention. Schröppel und Karau berufen sich im Publikumsgespräch auf das Scheitern als Chance und zitieren Martin Kippenberger: "Mit Pubertät zum Erfolg." Sie übertragen die Montage-Prinzipien eines Jonathan Meese auf die Bühne und hauen dem Zuschauer ihren entwaffnenden Bubencharme um die Ohren. Auf die Frage, warum sie nur mit einem Frosch- beziehungsweise Entenkopf "bekleidet" auf die Bühne kommen, antworten sie: "Uns hat das Kostüm so am besten gefallen!" Ihr Stück ist ein mit ironischen Anspielungen aufgeladenes Bilder- und Wortpuzzle. Soll sich doch jeder denken, was er will. Wie der Kunst, sei auch dem Zuschauer alle Freiheit zugestanden. Noch.
Deutschland, eine Abrechnung
Als Philipp Karau und Mark Schröppel am Freitag und Samstag anlässlich ihrer Diplominszenierung die TiL-Bühne betraten, schien es zunächst, als wollten die beiden Studenten der Angewandten Theaterwissenschaften nur von Fritz Teufel berichten. Der war einer der Mitbegründer der Kommune I, verbrachte einige Jahre im Gefängnis und kam durch das geplante „Pudding-Attentat“ auf US-Vizepräsidenten Humphrey zu Berühmtheit. Als Teufel letztes Jahr starb, verschwand seine Urne, um neben dem Grab Rudi Dutschkes wieder aufzutauchen.
In der Tradition von Teufels Spaßguerilla steht die Performancegruppe SKART (Schröppel Karau Art Repetition Technologies). Als die beiden sich als Kapitän und Stewardess kostümiert haben, können die Spiele beginnen: Schokoküsse fliegen ins Publikum und wieder zurück auf die Bühne, es wird Wasser verspritzt und hin und wieder aus der Rolle gefallen. Eine Stunde lang verhandelt „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ deutsche Verhältnisse seit dem zweiten Weltkrieg: Von Max Schmelings Niederlage gegen Joe Lois in New York 1938 bis hin zum Diskurs um gewalttätige Jugendliche mit Migrationshintergrund, mit Zeitzeugen und Popmusik. Das ist irrsinnig, laut und lustig, Ironie und Chaos haben dabei genauso ihren Platz wie die Dekonstruktion von Geschlechterrollen und Nationalstaatlichkeit. Grandios choreografiert ist der Kampf, den die beiden mit Ritterrüstung und Steinschleuder bewaffnet gegeneinander führen und der in der Zerstörung von Teilen des Bühnenbildes endet. Aus den Trümmern erstehen SKART mit Bommelhut und Kopftuch auf, Requisiten werden aus den Sägespänen am Boden gezogen. Nach minutenlangem Abspielen von Westernhagens „Freiheit“ öffnet sich die symbolische Mauer aus Tarnnetz noch einmal. Die beiden Performer mit Hang zum Exhibitionismus erscheinen in Frischhaltefolie und Theraband eingewickelt, mit Frosch- und Entenmaske unterhalten sich Schlagersänger Roberto Blanco und Vertriebenenvertreterin Erika Steinbach über Werte und Ordnung.
Die Vielstimmigkeit, schiere Masse und Lautstärke von Video, Klängen, Aussagen und auch technischen Mitteln ist erschlagend: Gartenzwerge baumeln von der Decke, Pflastersteine werden in die Waschmaschine gesteckt, Plakate mit grotesken Masken fragen: „Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab‘?“ Mit auf der Bühne ist das werwolfartige Haustier (Verena Billinger) im knappen Goldbadeanzug, das vor den sechs Fernsehern Fanta trinkt.
Gegensätze werden nicht aufgelöst, sondern ausgestellt, das Motto lautet: Verständnislosigkeit statt Empathie, Unterhaltung statt Erziehung. So auch in der letzten Produktion „Der Fischer und sein Mann“ als Musiktheater für Kinder in Duisburg, im Februar zeigen sie „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ nochmals in Mülheim a. d. Ruhr, als „Versuch eines abseitig artikulierten Kommentars über ein Land, in das man durch Zufall hineingeboren wurde, zu scheitern“.
Der große Coup kommt zum Schluss: Sebastian Unsinn alias MC Burger King von der Augsburger Electrocombo „Bassschickeria“, entsteigt in weißer Priesterrobe zum Finale, rappt mit eindringlicher Stimme und verspritzt salbungsvoll Bier, während Schröppel und Karau einen modifizierten Reichsadler herumtragen. Trotz der offensichtlichen Punk-Attitüde, die SKART vertritt, bleibt die Aussage vieldeutig. Ein Fest der Körper und der Anarchie.
Linksradikaler Kindergeburtstag
SKART hat mit „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ einen irrwitzigen Trip durch die Geschichte der BRD nach 1945 auf die Bühne gepfeffert. (...) Statt ausgefeilten Dialogen knallen Bilder, Botschaften, Songs und Videoeinspielungen in rasendem Wechsel auf Netzhaut und Trommelfell, bis das Ganze bei einem Loop aus Westernhagens schlimmstem Stück, „Freiheit“, minutenlang stehenbleibt. Das ist wahre Folter, der unbarmherzig verlängerte Scheitelpunkt einer Achterbahnfahrt vor dem Absturz. Der wiederum entpuppt sich als schreiend komischer Dialog zwischen Dauergrinser Roberto Blanco und der ewiggestrigen Vertriebenenvertreterin Erika Steinbach - in Frosch- und Entenmaske. Bei all dem Spektakel verliert das Stück nie an Unbekümmertheit, Ironie, Witz und - das muss erlaubt sein - Liebe. Die Bilder sind immer spannend, einfallsreich und entwaffnend, an- bzw. ausziehend.
Liebe in grellen Farben
„Galactic Gigolo“ macht den Auftakt zum studentischen Festival „megafon“
Bochum. Schrill und bunt. Ein bisschen schräg und richtig provokant – das Stück „Galactic Gigolo“ der Gruppe SKART bildet den passenden Auftakt für das studentische Festival „megafon“ 2010.
In der multimedialen Inszenierung beschäftigen sich die Akteure mit Liebe in all ihren Facetten und Toleranz.
Ob Homosexualität, Travestie oder Schönheitsideale – die Darsteller kennen keine Tabus und sprechen offen und mit kindlicher Unbefangenheit die oftmals problematischen Themen der heutigen Gesellschaft an. Die Umsetzung ist bewusst grell. Futuristische Musik und collagierte Videos wirken erbarmungslos auf das Publikum ein. Substanz erhält das Stück durch die Einblendung wahrer Geschichten.
Zum Denken anregen. Die Wahl der gezeigten Bilder ist zum großen Teil aber Geschmackssache. „Wir wollen keine Masterantwort bieten, sondern zum Nachdenken anregen. Wenn nur einer plötzlich bereit ist die Dinge in einem anderen Licht zu sehen, haben wir unser Ziel erreicht“, erklären Mark Schröppel und Philipp Karau. Das Ziel ist mit Sicherheit erreicht. Denn die Methode zeigt Wirkung: Nach der Aufführung finden sich fast alle Zuschauer in der Nähe der Bühne ein, um mit den Darstellern über die Idee des Stückes zu diskutieren.
Geschlechterbashing
Adorno hätte sich im Grabe umgedreht bei eurem Anblick. Susan Sontag hätte euch in einen ihrer Essays aufgenommen, Britney Spears in eines ihrer Videos. Andy Warhol hätte euch für seine Werkstatt engagiert, Sybille Berg als Romanfigurhauptvorlage. Jan Fischer und Sachsen-Paule hätten euch mindestens eine Nebenrolle angeboten. Alfred Kinsey hätte in euch eine Bestätigung seiner Thesen gesehen, Nietzsche wohl auch. Judith Butler hätte mit euch diskutieren wollen, Simone de Beauvoir auch (aber ohne Sartre). Die Berliner Nudistenvereine hätten euch Beide als Ehrenmitglieder gewollt. Sie alle haben euch und euren Galactic Gigolo nicht gesehen – und damit einen wirklichen großen Abend verpasst.