
Krasser Abend auf der Bühne: „Lasst uns Satanismus spielen“
Hamburg. Auf der Kampnagel-Bühne steht ein Müllcontainer, auf diesem Container stehen die Worte „Ich bin krass“. Und vielleicht bringt das die Stimmung von „Spielen #1“, einer Koproduktion des altersgemischten Kollektivs SKART/Masters Of The Universe und der inklusiven Theatergruppe Meine Damen und Herren, gut auf den Punkt. Krass geht es zu, in dem rund einstündigen Abend, der verschiedene Aspekte des Spiels in den Blick nimmt.
Man spricht ja vom Theaterspiel, aber eigentlich führt das auf eine falsche Fährte. Theater ist aufs Publikum hin ausgerichtet, Spiel aber ist etwas, das ganz für sich steht. Und entsprechend ist das Einstiegsbild von „Spielen #1“ auch eines, bei dem die Zuschauer außen vor bleiben: Die Bühne ist ein Spielfeld, und die Darsteller spielen für sich, konzentriert, abgewandt.
Satanismus als Kinderspiel: Auf Kampnagel geht es krass zu
Es passiert durchaus einiges, aber das passiert für die Akteure, nicht fürs Publikum. „Spielen ist die Freiheit, nicht das zu tun, was man muss“, verrät der Programmzettel. „Und nicht unbedingt zu können, was man tut. Man weiß nicht, wie es endet. Oder welchem Zweck es dient.“ Und entsprechend ist auch der Einstieg des Stücks konsequent, wenn dieses schon zum wiederholten Mal miteinander arbeitende Ensemble aus Kindern, Erwachsenen, Menschen mit und ohne Behinderung mit Hühnereiern vor sich hinspielt.
Fast ist man nach einer Weile enttäuscht, als dann doch noch Struktur in den Abend kommt, als eine Performerin mit einem Spielzeugauto über die Bühne kurvt und der Sound konkreter wird. Andererseits ist das dann doch ein hübsches Bild: Die junge Frau im Auto, das restliche Ensemble in ihrem Schlepptau, ein Beat, der einen coolen Kopfnickerrhythmus provoziert.
Also: schön. Aber ohnehin nicht von Dauer.
Spielen #1“ erweist sich als einigermaßen ungemütlicher Abend
Denn: Das Spielen ist seiner selbst immer wieder überdrüssig, weswegen schnell die Position geändert wird. Es folgt eine wilde Kissenschlacht, ein Rumsauen mit Eiern, irgendwann eine ziemlich beunruhigende Bestrafungsphantasie. Spätestens jetzt ist das Spiel in die Nachbarschaft des Traumes gewechselt und von dort geht es direkt zum Alptraum, in dem ein wütend knurrender Osterhase Amok läuft.
Und was in diesem Traum-Alptraum-Spiel als Ausweg aus dem Horror angeboten wird, beruhigt ebenfalls wenig: „Hört auf, den Osterhasen zu ärgern!“, ruft eine Kinderdarstellerin. „Lasst uns lieber Satanismus spielen!“ Worauf blutige Rituale ins Zentrum rücken und ein böses Glaubenbekenntnis formuliert wird: „Mutter – wir verachten dich!“, murmeln die Darsteller, „Vater – wir verachten dich!“ Aber gemach, das ist nicht ernst, nach und nach wird ohnehin alles verachtet, bis hin zum Haustier. Nicht so schlimm. Trotzdem krass.
„Spielen #1“ erweist sich so als ungemütlicher Abend. Aber auch als Theater, das gerade deswegen funktioniert, weil es kein Theater sein will, sondern selbstbezügliches, verrätseltes, zwischendurch auch erotisches Spiel. Wobei dieses Funktionieren am Ende womöglich das Scheitern des Stücks bedeuten würde. Denn, wie gesagt: Spielen, das heißt nicht, dass ein Publikum ein rundes Stück zu sehen bekommt.
Eine andere Ästhetik und ansteckender Spaß
Meine Güte, wie sieht’s denn hier schon wieder aus!?! Wie ein großes Kinderzimmer, wenn die Aufsichtspersonen mal länger nicht da waren, um das Spielen in seine Grenzen zu verweisen!
So wirkt die viereckige Bühne auf Kampnagel, um die herum das Publikum am Mittwochabend Platz nimmt. Schlicht „Spielen #1“ heißt die Performance, die die Gruppe Skart gemeinsam mit dem altersübergreifenden Kollektiv „Masters of the Universe“ (mit Mitgliedern zwischen acht und 40) und dem inklusiven Hamburger Ensemble „Meine Damen und Herren“ entwickelt hat.
Was war hier bloß los? Überall Farbkleckse auf dem Boden und Gekritzel und herumliegende Spielsachen. Riesige, umgekippte Vasen mit Teletubbies darauf, die jetzt aussehen wie ausgekippte Füllhörner. Am Rand steht eine große Mülltonne, auf die jemand „ICH BIN KRASS“ gekritzelt hat, das „A“ ist ein Anarchiezeichen. Daneben stehen eine kleine Küche mit einem „happy kitchen“-Schild darüber und eine Empore mit zwei großen Kirschen darauf. Auf einem verspiegelten Podest gegenüber liegen Zuckerpackungen und verstreute Zuckerkristalle. Hier wurde offenbar lange und ausgiebig und sehr frei gespielt und gebastelt – und keiner denkt ans Aufräumen.
Die Performer:innen des Abends sind Kinder von SKART und Mitglieder von Meine Damen und Herren. In bunt-verspielten Trash-Bastel-Kostümen sitzen sie zu Beginn auf der Bühne: als Biene mit einem aufgeklappten Laptop als Flügel auf dem Rücken zum Beispiel oder als zotteliger Hase mit vier Ohren und pinken Bärchen-Hausschuhen. Ein kleines Mädchen hat eine Weste mit dem Symbol der Hausbesetzerszene an. Die meisten spielen zu klackernden Elektronikklängen müde mit Hühnereiern. Ein Mädchen zündet Kerzen an und klebt sie im Gittermuster auf den Boden.
Dann ein Techno-Beat, ein Mädchen fährt in einem blinkenden Elektro- Spielzeugauto auf die Bühne, die anderen beginnen mit merkwürdigen Schritten hinter ihm herzulaufen. Spielen eben. Plötzlich wird es dunkel. „Ich habe Angst“, ruft jemand. Ein Spot geht an und ein Wesen hält mit lauter Stimme von der Empore eine abstruse Anklage: „Als Richterin verurteile ich dich schuldig, nicht schuldig zu sein!“ Die Strafe: 18 Jahre Kippendrehen, aber es seien eigentlich 36 Jahre, weil man nicht schlafen dürfe, um die Strafe voll und ganz auszukosten. Stubenarrest.
Anarchisch antipädagogisch
Eine Stunde lang probieren die Performer:innen in verschiedenen Szenen solche Spielrituale aus: eine Kissenschlacht mit dem vierohrigen Hasen, der sich als Osterhase entpuppt, zum Beispiel – bis das kleinste Mädchen ans Mikro tritt und mit düsterer Stimme sagt: „Hört auf, den Osterhasen zu ärgern! Lasst uns lieber Satanismus spielen!“ Ein Spielfeld wird ausgerollt, ein Junge schreibt mit roter Farbe wie mit Blut „Ja“ und „No“ in vier Felder, alle beginnen in schwarzen Kutten und stockenden Schritten eine Prozession um das Feld. Wer geopfert wird, das wird wie im Kinderspiel mit Schere, Stein, Papier entschieden. Aber es gibt auch Seilspringen mit verbundenen Augen, Herumspringen vor der Windmaschine. So was.
Eine Geschichte erzählt der Abend dabei nicht. Denn erklärtes Ziel des von Skart ist seit zehn Jahren ein Theater der ausdrücklich unfertigen Formen: „Spielen ist die Freiheit, nicht das zu tun, was man muss. Und nicht unbedingt zu können, was man tut. Man weiß nicht, wie es endet. Oder welchem Zweck es dient“, steht dazu diesmal im Stückzettel. Kein Erbauungstheater für Kulturerfahrene will das sein: Als Zuschauende:r muss man nichts darüber wissen, wie Theater sonst so auszusehen hat.
Hier geht es weniger ums Produkt als um das gemeinsame Produzieren. Schon in der Entstehung der Stücke sollen alle gleichberechtigt und zugleich professionell zusammenarbeiten – trotz altersbedingter und anderer Machtgefälle. So soll ein Theater der neuen Generation und eine neue Generation von Theater zugleich erprobt werden: basisdemokratisch, anarchisch postdramatisch und antipädagogisch. Alle an der Produktion Beteiligten sind alles zugleich: Ideen-geber:innen und Regisseur:innen, Darsteller:innen und Autor:innen, Bühnen- und Kostümbildner:innen. Ein emanzipiertes, gemeinsames Lernen voneinander soll das sein statt machtbasierter, verdummender Pädagogik.
Bekannt sind SKART für opulente und multimediale Spektakel wie ihre trashige Trilogie über Materialismus und Überfluss: „Lucky Strike“, „Schlaraffenland“ und „Exodus“. Diesmal ist das Ergebnis etwas leiser, kleine Szenen, die eine eigene Ästhetik entwickeln wie dieses beeindruckend selbstbewusst-zärtliche, ausgiebige Zuckerbad von „Meine Damen und Herren“-Performerin Paula Stolze.
Zu sehen und zu kritisieren gibt es hier am Ende also gar nichts, was den Anspruch erhöbe, fertige Kunstform zu sein, deren Mängel man kennzeichnen müsste. Denn eins hat man dann ja doch gelernt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, immer wieder geht das Theater von vorn los. Dabei zuzuschauen ist auch ganz ohne Moral am Ende faszinierend und ansteckend. Und zu Hause fängt man an, die alten Bastelsachen wieder herauszuholen.
Welt ohne uns [...] war eine der berührendsten Sachen, die ich seit langem sah.
Ich bin kein großer Freund von Superlativen in Theaterkritiken, eigentlich sollte die genaue Beschreibung des Gesehenen schon klarmachen, wie gut ein Abend war. Aber: „Welt ohne uns“ von Theaterensemble "Meine Damen und Herren", SKART und Masters Of The Universe auf Kampnagel - Internationales Zentrum für schönere Künste war eine der berührendsten Sachen, die ich seit langem sah.
Traumbilder, mal besänftigend, mal verstörend
Das Ensemble Meine Damen Und Herren ruft zum Performance-Totentanz: Was wird aus der "Welt ohne uns“?
Hamburg. Brian Wilsons Stimme schmeichelt sich durch die Kampnagel-Halle, harmonisch, lieblich. Aber was Wilson da singt, ist ziemlich verschattet: „I’m A Leaf On A Windy Day / Pretty Soon I’ll Be Blown Away / How Long Will The Wind Blow / Until I Die?“, ein Blatt tanzt im Wind, und bald ist es weggeweht. Was hier süßlich durch den Saal klingt, ist Todesahnung.
Mit der Performance „Welt ohne uns“ beschäftigt sich das inklusive Hamburger Theaterensemble Meine Damen Und Herren zum wiederholten Mal mit utopischen Konzepten, und diesmal fragt die Utopie: Was wird sein, wenn wir nicht mehr sind?
Das hängt auch mit der existenziellen Erfahrung der Corona-Pandemie zusammen, der Menschen mit Behinderung durch Vorbelastungen und die erhöhte Gefahr, schwer zu erkranken, besonders ausgesetzt sind. Aber gleichzeitig stellen Meine Damen Und Herren hier auch Fragen, die jeden betreffen – der Tod ist ein allgemeingültiges Phänomen. Und wegducken gilt nicht.
Theaterkritik: "Welt ohne uns" auf Kampnagel
Schon in früheren Arbeiten haben Meine Damen Und Herren die Dramenstrukturen nach und nach aufgelöst, jetzt – in Zusammenarbeit mit dem postdramatisch arbeitenden Duo SKART und dem altersgemischten Kollektiv Masters Of The Universe – gibt es praktisch überhaupt kein Stück mehr.
Stattdessen entwickeln die Performer Bilder, die näher an der Bildenden Kunst angesiedelt sind als am Theater. Nicht ohne Grund besteht der Beginn von „Welt ohne uns“ aus so genauen wie ausführlichen Beschreibungen des Bühnenaufbaus: hier eine Palme aus Wohlstandsmüll, dort ein Grabhügel, außerdem Heimorgeln, mit Schrauben verziert – das ist eine Rauminstallation, keine Theaterausstattung im engeren Sinne.
Berührende Momente, aber auch harter Stoff
Die Bilder, die hier aufgerufen werden, sind Traumbilder, mal besänftigend, mal verstörend. Ein lebloser Körper wird so mühe- wie liebevoll geschminkt, nur um sich gegen Ende wie aus einem tiefen Schlaf zu erheben. Eine vor Angst schreiende Gestalt wird über die Bühne geschleift. Ein männlicher Leib dümpelt in einer bräunlichen Flüssigkeit, um schließlich mit einer Art Flaschenzug in die Höhe gezerrt zu werden – da erinnert der Abend ein wenig an die hochgelobte Gewalt-Sexualität-Artistik einer Florentina Holzinger, was einen Hinweis darauf gibt, welches bühnentechnische Niveau Meine Damen Und Herren mittlerweile erreicht haben.
„Wer Angst vor dem Tod hat, wird sich nach diesem Stück darauf freuen“, kündigt der Programmzettel an, was nicht ganz korrekt ist. Ja, der Abend hat seine berührenden Momente, aber das Stück ist auch harter Stoff, bedrückend, grausam. Auf der Bühnenrückwand ist eine Collage zu sehen, Bilder von Todesritualen – Viren, Gerippe, mittendrin der mittelalterliche Kupferstich eines Totentanzes. Und vielleicht sagt dieses Bild etwas darüber aus, was der Reigen „Welt ohne uns“ über den Tod verrät, einen Tod, der gleichzeitig fröhlich sein kann und entsetzlich.
Tod für alle
Auf Kampnagel startet das doppelt inklusive Stück „Welt ohne uns“
Nun ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die Brüder Grimm Inklusion und performative Künste im Sinn hatten, als sie die Erzählung vom „Gevatter Tod“ in ihre Märchensammlung schrieben. Sie wissen schon, die vom Sensenmann, „der alle gleichmacht“. Bestreiten lässt sich die Nähe aber kaum: zwischen Diskursen über Tod und Gleichberechtigung, zwischen ideellem Wert des Lebens und den ganz anderen herrschenden Realitäten.
„Welt ohne uns“ ist ein Theaterstück über den Tod und wird am heutigen Mittwoch seine Uraufführung auf Kampnagel erleben. Eine inklusive Produktion ist es gleich auf zwei Ebenen. Zum ersten Mal haben hier nämlich die Gruppen „Meine Damen und Herren“ (aus Theaterschaffenden mit und ohne Behinderung) und das altersübergreifende Kollektiv „Masters of the Universe“ (Motu) zusammengearbeitet.
Beide bringen Menschen auf die Bühne, die dort sonst in der Regel nicht angemessen repräsentiert werden. Einig sind sich beide Gruppen allerdings auch darin, dass das allein noch längst nicht reicht: Beide verstehen sich weniger als Sozialprojekte, denn als Kunstschaffende auf der Höhe der Zeit. So ist schon der Ansatz von „Welt ohne uns“ nicht nur durchdrungen von Performance- und Körperwissen, sondern reflektiert stets auch die Bedingungen der eigenen Entstehung.
Das ist fraglos ein Gewinn für die Darstellenden, aber sind solche Überlegungen auch interessant fürs Publikum? Vorsichtig prognostiziert: ja. Denn auch wenn vordergründig der Witz und die schon beim Vorgespräch überbordende Spielfreude der Akteur:innen im Mittelpunkt stehen (ganz zu schweigen von der meterhohen Eisstielpalme, einem Schlauchboot voller Schlamm, dem rituellen Essen der Totenasche oder der Tatsache, dass in dem modrigen Boot später auch noch gebadet wird) – entscheidender ist doch das angepeilte Abstraktionsniveau dieser Arbeit.
Es sei nie darum gegangen, sagt Mark Schröppel von Motu, „zu einer einheitlichen Todesreflexion zu finden“. Vielmehr sei über das gemeinsame Philosophieren, Spielen und die kollektive Stückentwicklung „ein gemeinsamer Erfahrungshorizont“ entstanden, aus dem sich die körperlichen Elemente entwickelt haben. Und der ist schwer zu fassen, aber doch auch von außen fühlbar. Und es ist Kopfarbeit: Der inklusiv und gruppenübergreifend besetzte „Regie Think Tank“ hat abstrakte Diskussionen in assoziative Bilder verwandelt und sich bewusst gegen Kitsch gestellt, gegen religiöse Vereinfachung oder esoterische Heilsgeschichten. Ob’s geklappt hat, sehen Sie ab heute Abend
Ängste zum Kneten und Kauen
Die Performer von SKART hatten zuletzt in der Studiobühne die »German Angst« untersucht. Nun haben sie gemeinsam mit Mobile Albania eine unerwartet »süße« Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Ängste und individuellen Sorgen unternommen. »Seele essen Angst auf« lautete der Titel – und den galt es durchaus wörtlich zu nehmen.
Was macht Angst mit uns? Wie können wir sie überwinden? Und wie viel Spaß kann man dabei haben?
Diese drei Fragen standen am Wochenende über der Aufführung »Seele essen Angst auf«, die das in Gießen gegrün- dete Performance-Duo SKART und die ebenfalls am Gießener ATW-Institut der Universität ins Leben gerufene Gruppe Mobile Albania gemeinsam schulterten. Nach einer drei- läufigen öffentlichen Generalprobe am Freitag folgten drei weitere Runden am Samstag, Start war an der taT-Studiobühne, von wo aus die Teil- nehmer mit Reiseleitung in ein Waldstück zwischen Reis- kirchen und Lich aufbrachen.
Schon die Fahrt mit dem Stadtbus war durchaus angstbeladen: Dass das an der Front
angeschriebene Ziel mit dem sprechenden Namen »Heuchelheim« nicht stimmen konnte, war das Eine; die Hinweise auf allerlei Zeugnisse am Weges- rand aus Gießens Angst-Ge- schichte – von den Spitzbunkern aus dem Zweiten Weltkrieg bis zur Shisha-Bar-Explo- sion in der Grünberger Straße (»Der Allee der Zeitlosigkeit«) – das Andere.
»Schreibt Eure Ängste auf einen Zettel und steckt ihn in diese kleinen Kugeln«, lautete die Aufforderung und alle im Bus folgten brav. Dass auf dem Weg eine gesichtslose Pelzgestalt an der B49-Haltestelle Ganseburg ein- stieg und die Gruppe am Ziel eine schwarzgekleidete Person mit Leuchtaugen empfing, schaltete das Kopfkino an.
Angst als Knetfigur und Kuchendeko
Und dann ging es, eine »Kosmologie der Albträume« im Gepäck, mit dem Stadtbus in den Wald, dort wo sich sonst nur Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Diesmal waren aber dort ein Strohbär, ein Sensenmann und zwei »Horrorclowns« anzutreffen. Auf Holzkisten sitzend, von Decken und heißem Tee gewärmt, erlebten die Teilnehmenden in der Folge eine Analyse aller Ängste, die sie zuvor auf Zetteln anonym notiert hatten.
Die Angst vor Einsamkeit, vor Demenz, einem Unfall oder davor, einen anderen Menschen zu verletzen – all das wurde umgesetzt mit einer aus einer Kiste heraus erzählten, frei erfundenen Geschichte, durch hinter einem Lupenglas irrwitzig verzerrte Gesichtsausdrücke und mit Kneten von kleinen Angstfiguren in einer weiteren Box.
Dass sich das bei den vielen notierten Ängsten ein wenig in die Länge zog, konnte man verschmerzen, denn unmittelbar danach riefen die »Horrorclowns« zu ihrer Jahrmarktbu- de, in der, wer wollte, mit einer Spielzeugpistole auf kleine Fondantbildchen seiner ganz
persönlichen Angst schießen konnte. Wer traf, bekam nicht nur ein Stück Kuchen mit dem Fondant-Angstbildchen darauf, sondern auch die entsprechende Knetfigur gereicht.
»Seele essen Angst auf« – hier wurde das wörtlich genommen. Ängste und Sorgen konnte man sich so einverleiben – und bei der anschließenden Heimfahrt zur taT-Studiobühne, mit angstvoll umgetexteter Schlagermusik im Ohr, vielleicht sogar verarbeiten.
Ein bisschen Kindergeburtstagsheiterkeit, hintersinniger Nonsense, überbordende Fan- tasie – »Seele essen Angst auf«, das im Rahmen einer Doppelpass-Förderung zeitgleich auch am Theater in Münster stattfand und dessen Titel auf den Faßbinder-Film »Angst essen Seele auf« anspielt, war eine nicht immer leicht verdauliche, aber durchaus unterhaltsame Extrem-Performance, die die Sinnlichkeit und Bildgewalt der SKART-Arbeit und das Thema des Unterwegssein von Mobile Albania durchaus stimmig und mit Humor zusammenführte.
Wenn Ängste sichtbar werden
Eine ganz besondere Theaterperformance der Gruppe SKART führt ins Unterholz – und zu interessanten Einsichten
Auf eine Reise ins Ungewisse begaben sich am Wochenende rund 80 Teilnehmer einer ungewöhnlichen Gießener Theaterperformance. Eingeteilt in jeweils drei Gruppen an zwei Abenden ließen sie sich auf das Wagnis „Seele essen Angst auf“ ein. Dass dieser Titel durchaus wörtlich zu nehmen war, wurde vielen allerdings erst im Laufe des Abends klar.
Ein Erlebnisbericht.
Los geht es an der taT-Studiobühne. Für das Publikum gab es zum nun folgenden Programm zunächst nur diesen Hinweis: Warme Kleidung und festes Schuhwerk werden empfohlen. So geht es dann vom Treffpunkt zu einem Bus mit der Aufschrift „Heuchelheim“ – einer der vielen kleinen falschen Fährten, die an diesem Abend gelegt werden. Ein Reisebegleiter nimmt jeden einzelnen Besucher in Augenschein und weist ihm einen Platz zu. Das endgültige Ziel bleibt dennoch lange ungewiss. Nach seltsamen Stopps am Straßenrand und dem Zusteigen eines von Kopf bis Fuß mit Fellen behangenen Wesens werden unterschwellige Befürchtungen genährt, auch wenn der redselige Reisebegleiter die Truppe mit allerlei unsinnigen Informationen füttert.
Gefährte in Fellkostüm
Irgendwo im Niemandsland hinter Gießen hält der Bus schließlich in einem Wald und die Gruppe wird eindringlich zum Aussteigen aufgefordert. So werden erste Assoziationen an Szenen bekannter Horrorfilme wach. Schließlich obliegt dem Wald schon immer ein gewisses Mysterium und schon dank der Märchen der Gebrüder Grimm hat wohl so ziemlich jeder junge Leser verinnerlicht, dass dort Gefahren lauern können.
Genau mit diesen Urängsten spielen die Theatermacher der aus Gießen stammenden und immer wieder hier inszenierenden Gruppe SKART, die diese Performance in Zusammenarbeit mit dem 2008 ebenfalls in Gießen gegründeten Performance-Kollektiv Mobile Albania sowie dem Stadttheater Gießen und dem Theater Münster entwickelt hat.
„Was tun wir, wenn Davon- laufen, Zuschlagen und Totstellen keinen Erfolg versprechen, aber die Angst immer noch da ist, lähmend, bedrückend, beklemmend?“ Mit diesen Fra- gen beschäftigt sich das rund zweieinhalbstündige Programm jenseits der bekannten Theaterbühnen. „Seele essen Angst auf“ ist dabei zugleich eine Anspielung auf den berühmten Film „Angst essen Seele auf“ von Rainer Werner Fassbinder, dessen Botschaft hier ins Positive gedreht wird.
Doch die Angst wird im Wald zunächst weiter verstärkt. War das nicht ein dunkler Schatten? Bewegt sich nicht etwas im Unterholz? Schleicht da nicht ein Sensenmann entlang? So ganz sicher kann man sich und seinen Sinneswahrnehmungen nicht sein. Und siehe da, wie bei Hänsel und Gretel taucht auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald ein hell erleuchteter Kiosk auf. Statt einer Hexe laden hier allerdings freundliche Menschen zum Verweilen ein. Doch kann man ihnen auch trauen?
Das Spiel mit den Irritationen und dem Ungewissen ist also längst in vollem Gange. Vor den Bänken wird zudem ein weiterer Spielort sichtbar: Drei Holzkästen in unterschiedlichen Höhen, mit unterschiedlichen Funktionen. Markant und gut sichtbar ist die mittige Stele: Hinter einer Glasscheibe, von oben herabblickend, werden die Köpfe weiterer Darsteller sichtbar, suggestiv von unten beleuchtet mutieren sie zu unwirklichen Gestalten. Ein anderer Kubus beherbergt unsichtbare Erzähler, die aus zuvor notierten, anonymisierten Angstbekenntnissen der Teilnehmer eigene, improvisierte Geschichte ersinnen und in einer großen Bandbreite an Tonlagen vortragen. In einer dritten Box werden diese Horrorstories zeitgleich zu einer kleinen Voodoo-Puppe aus Fondant manifestiert. So werden Ängste sichtbar, greifbar und beherrschbar – und fein säuberlich aufgereiht im Kiosk der Ängste präsentiert.
Wer sich seinen Ängsten stellt, indem er auf sie schießt, bekommt zur Belohnung eine Jagdtrophäe in Form eines kleinen Kuchens. So kann der Mensch spielerisch mit seinen Ängsten umgehen, zumindest auf der Theaterplatt- form. Die Seele kann Ängste aufessen. Gestärkt und weitaus gelöster als bei der Hinfahrt geht es aus dem öffentli- chen Theaterraum zurück in die Realität, wie immer sie auch für jeden Einzelnen aussehen mag.
So wird dieser Waldspaziergang zu einer rundum gelungenen Performance, die zeigt, wie sich der Raum zwischen Realität und Spiel aufheben und vermischen lässt. Die Teilnehmer sind kein passives Publikum mehr, sondern maßgeblicher Teil des Gesamtkunstwerks.
Wie Mitglieder von SKART erklären, hat eine 15-köpfige Gruppe von freischaffenden Künstlern, die alle aus dem Studiengang der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen hervorgegangen sind, das Stück erarbeitet. Und das Interesse war groß: Sämtliche Vorstellungen waren ausverkauft und das Publikum war herrlich unterschiedlich: Theater für alle also. So soll es sein.
Begegnung mit Kontrollverlusten
„Angst essen Seele auf“ heißt ein berühmter Film von Rainer Werner Fassbinder. Eine facettenreiche Performance in Münster dreht den Titel ins Positive.
„Sie gehört zu mir wie ein Fluchtweg ohne Tür.“ Der Fahrer hört Schlager mit morbiden Texten. Der Reiseleiter, der eben noch mit einem schrägen Ritual das Publikum vor dem Theater begrüßt und die Plätze im Bus angewiesen hat, erweist sich als nicht vertrauenswürdig: „Wir biegen jetzt links ab, direkt nach Coerde“, flötet er ins Mikro. Kaum gesagt, startet das Gefährt in die entgegengesetzte Richtung durch. Dieser vermeintliche Führer ist ein Entführer. Und er gibt vertrauten Landmarken und Gebäuden von Institutionen neue, trostlose Namen: „Schule der Überforderung“, „Haus der verschwitzten Termine“, „Brücke der Beziehungslosigkeit“.
Dieses Spiel mit Irritationen und Ungewissheit setzt den Auftaktakzent von „Seele essen Angst auf“, einer facettenreichen und bildmächtigen Koproduktion der Performance-Kollektive SKART und Mobile Albania, des Stadttheaters Gießen und des Theaters Münster . Hinter dem ins Positive gedrehten, sprichwörtlich gewordenen Titel eines Melodrams von Rainer Werner Fassbinder verbirgt sich eine interaktive Inszenierung der Sorgen und Ängste des Publikums. Diese werden auf der Fahrt anonymisiert auf Zettel gebannt, zur späteren Interpretation durch Schauspieler.
Nach allerlei Wirrungen landet die Reisegesellschaft in einem Wald, von den fellbemützten Betreibern einer Schießbude begrüßt, bewacht von mysteriösen Figuren in überlebensgroßen Kostümen, Urviecher traditioneller Ängste: ein Laubwesen, ein Klotz aus Fell, ein schemenhafter Sensenmann. An zwei Stellen stehen je drei hölzerne Kästen. Hinter eingelassenen Sichtfenstern, die wie Monitore fungieren, schieben sich darin abwechselnd Köpfe von Darstellern zu maschinenartigen Geräuschen ins Bild. Mit starrem Ausdruck, suggestiv beleuchtet, ähneln sie Wachsfiguren, Puppen, Hologrammen. Weitere, in den kleineren Kuben verborgene Erzähler verspinnen die Angstbekenntnisse der Teilnehmer zu improvisierten Geschichten, mit großer Bandbreite an Genres und Tonlagen. Rührend klingen die Sehnsucht nach einem schönen Zuhause und die vorauseilende Verlustangst, grell die Überforderung im Job. Oft komödiantisch und persiflierend, aber auch mit Splatter-Elementen durchsetzt entstehen Skizzen unterschiedlicher Ängste vor Kontrollverlust: Je komplizierter das menschliche Leben zwischen Natur- und Technikwelten, desto vielfältiger die Sorgen, große, kleine, individuelle und kollektive. Angst, die Gesellschaft sei den Problemen von Umweltzerstörung und Fluchtbewegungen nicht gewachsen; Angst, bisherige Erfolge bei der Eindämmung der Corona-Pandemie würden leichtfertig verspielt. Laut grölt ein unbeeindrucktes Feierbiest durch den Wald.
„Seele essen Angst auf“ bietet, getreu dem Titel, auch eine kulinarische Begegnung mit den Sorgen: In der dritten Box sieht man Hände den jeweils geschilderten Grusel synchron als Kleinskulptur modellieren. Das Material ist Fondant, eine Zuckermasse. Am Schießstand, wo eine Angst nach Wahl mit einer Luftpistole aufs Korn genommen werden kann, gibt es auch die Chance, sich die Angst wörtlich einzuverleiben und zu verdauen – als skurriles Konfekt. Fresszellen, Marsch!
