HR 2 Frühkritik

(Mai 2018)

 

Feministischer Cyborg

„Der Sandmann“ als Performance von SKART am Staatstheater Darmstadt

Es hätte keines Beweises bedurft, dass E.T.A Hoffmanns erstmals 1819 erschienene Erzählung „Der Sandmann“ weit mehr ist als gut abgehangener Prüfungsstoff für Abiturienten. Doch die Musik-Video-Schauspiel-Performance, die nun vom Duo SKART (Philipp Karau und Mark Schröppel) in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt uraufgeführt wurde, ist so atemberaubend gegenwärtig dass man sich in manchen schmerzhaften Momenten nach einer der vielen braven Schüleraufführungen sehnt. SKART bringen den Zuschauer dabei immer wieder an Grenzen, durchweg schön anzusehen und  anzuhören sind die 70 Minuten nicht.
Anfangs konnte man noch meinen Anja Gläser, Karin Klein und Johanna Serenety Miller sprechen in chronologischer Ordnung den Originaltext. Da berichtet zunächst der Student Nathanael seiner Verlobten Clara in einem Brief von schaurigen Kindheitserlebnissen in mit dem vorgeblichen Sandmann, da antwortet die Rationalistin mit guten Ratschlägen und Liebesbekundungen. Im Hintergrund freilich tut sich da schon höchst Befremdliches. Eine in ein aufgeblasenes Gummikostüm gezwängte Figur tanz und kullert über die Bühne, mit einem Laubbläser werden Plastikplanen weggeblasen und enthüllen halb naturwissenschaftliche, halb aus einem Horrorkabinett stammende Bilder von Köpfen und einer Schulbuchdarstellung eines schwangeren Unterleibs. Ausgestopfte Tiere erinnern an ein Naturalienkabinett, aber was hat darin eine Madonnenfigur zu suchen?
Ein lebensgroßes Pferd wird hereingeschoben, darauf sitzt eine Frau und seufzt immerfort zum brüllenden Forte der elektronischen Musik den einzigen ihr möglichen Laut „Ach“. Natürlich ist es die Puppe Olimpia, von deren Lebendigkeit einzig Nathanael, in seiner Wahrnehmung spätestens durch den Kauf eines Seerohrs beim dubiosen Wetterglashändler Coppola der Wirklichkeit entrückt, felsenfest überzeugt ist. Als er mit ansehen muss wie Coppola und der nicht minder zwielichtige Professors Spalanzani die Puppe im Streit um die Urheberschaft zerreißen, verfällt er vollends den Wahnsinn und muss ins Irrenhaus. Dies alles wird vorgelesen, an keiner Stelle wird hier am naturalistischen Sinn ein Schauspiel mit Figuren und Dialogen geboten. Der Text wird zerhackt, nach Belieben wiederholt, ab und zu auch mit direkter Ansprache des Publikums in Gegenwartssprache übersetzt.
Doch zum Kern kommt diese von Videoeinspielungen, einem filigranen Glockenspiel-Musikautomaten und immer neuen Geräuschattacken begleitete und unterbrochene Inszenierung erst, nachdem Nathanael sich zu Tode gestürzt hat. Bei Hoffmann gehören dann die letzten Sätze der Erzählung, nicht ohne Ironie dem künftigen Eheglück der herzensguten Clara. Bei SKART aber betreten nun Wesen mit Neonmasken und gigantischen Gummiköpfen die Bühne, als hätte sie ein Science-Fiction-Film ausgespuckt. Sie fordern einen radikalen Perspektivwechsel und preisen das Mensch-Maschine-Mischwesen Olympia als eigentliche Heldin des Stücks, als feministischen Cyborg, der die von Männern bestimmten Gender Zuschreibungen überwindet und neue Spielarten des Eros, des Umgangs mit Geschlecht insgesamt propagiert.
Dieser Pamphlet-Schluss wirkt leider trotz aller Bild- und Klangwucht ein wenig aufgesetzt. Die Stilisierung der Puppe Olympia, die auf sehr genau analysierte Weise ja für den krankfhaften Narzissten Nathanael eine Idealfrau darstellt,  als Weiblichkeitmetapher, wurde vorher an keiner Stelle vorbereitet und geriet auch sprachlich - gerade im Vergleich zur Prosa Hoffmanns - ein wenig platt. Dennoch bietet der Abend, bei dem auch die drei Darstellerinnen bis an die Grenze ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gefordert werden, einen ungemein spannenden, in Zeiten von künstlicher Intelligenz und um sich greifende Automatisierung brennend aktuellen Interpretationsansatz.

(Matthias Bischof, FAZ, Mai 2018)
 

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